Der Abschied von Baja California fällt uns schwer. Drei Mal verschieben wir den angedachten Fährtermin vom Süden der Halbinsel hinüber aufs mexikanische Festland, irgendwie können wir uns nicht losreißen von unserem gemächlichen Strandleben. Mit jedem Tag scheint die Sonne länger und wärmer, wird das Azurblau des Ozeans tiefer und funkelnder, der ewige Sand im Van weniger nervig. Viele Tage gehen mit Arbeit ins Land, die sich kaum nach Arbeit anfühlt so ganz ohne Zeitdruck und mit Kitschpostkartenpanorama vor den Augen, sobald wir den Blick über den Rand des Laptops heben. Aber irgendwann wird der Lockruf neuer Abenteuer lauter und Nico und ich nehmen uns gegenseitig das Versprechen ab, dass wir den Fährtermin kein viertes Mal verschieben. Buchen gemeinsam mit Sissi und Jannis ein AirBnB in Mexico Stadt – und schaffen damit Fakten für die Reiseplanung.
Mit teutonischer Pünktlichkeit stehen wir am Tag der Verschiffung um 13.00 Uhr vor dem Hafen von La Paz. Werden von einem freundlichen Inspektor inspiziert, der eher interessiert als streng in unsere Schränke schaut und sich das angebotene Stück Lindt-Schokolade (die ich zu meinem großen Glück neulich in einem Supermarkt gefunden hab: seit neun Monaten unsere seltenen Lichtblicke in der Schokoladen-Diaspora von Kanada, den USA und nun auch Mexiko….) schmecken lässt. Werden ein paar Meter weiter gelotst, gewogen und gemessen, bekommen einen Papierschnipsel mit unseren Fahrzeugdaten in die Hand gedrückt und werden damit ins Ticketbüro auf dem Hafengelände verwiesen. Zu viert – Anna und Anne verschiffen zusammen mit uns – stapfen wir in der sengenden Mittagssonne auf das kleine Bürogebäude zu, vor dessen Glastür sich schon ein halbes dutzend Trucker auf Plastikstühlen in dem einzigen bisschen Schatten weit und breit drängt. Wir haben uns für die LKW-Fähre entschieden, die drei Mal in der Woche die Strecke von La Paz nach Mazatlan bedient. Die Touristenfähre pendelt die selbe Strecke zwar täglich, da dürften wir die Nacht jedoch nicht im Fahrzeug verbringen. Eine ganze Weile lang beobachten wir die Abläufe vor dem Hafenbüro: Ab und zu geht jemand hinein oder hinaus, ab und zu streckt auch jemand seinen Kopf durch die Tür und ruft Namen auf. Wir haben keinen Schimmer, wie der Prozess aussieht. Müssen wir draußen warten? Drinnen? Etwas abgeben? Werden wir auf magische Art und Weise aufgerufen, obwohl wir bisher nur über eine Reservierung verfügen, die wir ein paar Tage zuvor im Büro der Verschiffungsgesellschaft in der Stadt platziert haben? Anna und ich schnappen uns unsere Papiere (wir haben keine Ahnung, was genau wir benötigen, haben aber einfach mal alles, was irgendwie in Zusammenhang mit uns und dem Fahrzeug steht, eingepackt) und quetschen uns in das winzige Ticketbüro. Zwei Damen hacken hinter den verglasten Schaltern, die mit „Ticketverkauf“ überschrieben sind, mit konzentrierten Minen etwas in ihre Computer. Rechts davon sitzen zwei weitere Damen hinter Schaltern, über denen „Koordination“ und „Supervisor“ steht. Vor den Schaltern stehen Menschen, ebenso auf den übrigen fünf Quadratmetern des Raums. Ein junger Neuseeländern meint, man müsse wohl den Papierschnipsel, den wir nach dem Wiegen des Fahrzeugs bekommen haben, an eine der beiden Damen vom Ticketverkauf weitergeben. Echt jetzt? Einfach an allen Leuten vorbeidrängeln und das Ding an dem Kunden vorbei, der gerade bedient wird, zwischen den Glasscheiben hindurch an die Dame hinter dem Rechner geben? Ich zögere noch ein paar Minuten, dann nehme ich meinen Mut zusammen und suche den Blickkontakt mit der rechten Dame. „Una pregunta…“ frage ich vorsichtig. Ein herrischer Blick und eine schroffe Geste schneiden mit das Wort ab. Offenbar bin ich noch nicht dran. Zehn weitere Minuten vergehen, Leute kommen rein und raus, werden bedient oder auch nicht. Mein deutsches Gehirn rotiert. Was geht hier?? Ich suche nach dem richtigen Moment, um die Dame am Koordinations-Schalter zu fragen. Aber sie hängt ohne Unterlass am Telefon. Also wage ich einen zweiten Anlauf und trete hinter die Person am Ticket-Schalter, die gerade bedient wird. Die herrische Dame winkt mich ungeduldig zurück an meinen Platz. Andere Leute reichen ihre Papierschnipsel durch den Spalt zwischen den Scheiben. Wieso dürfen die und ich nicht? Nach einer weiteren Weile schaut die herrische Dame auf. Ich bewege mich vorsichtig auf sie zu. Sie protestiert nicht. Blitzschnell schiebe ich meinen Papierschnipsel zwischen den Scheiben hindurch und Annas gleich hinterher. Sie nimmt sie mit säuerlichem Blick an. Geschafft! Nach einer weiteren halben Stunde Warten, in der die Kunden in einer sich uns nicht erschließenden Reihenfolge bedient werden, schnappt sich die fröhliche Dame am linken Schalter einen der Papierschnipsel, schaut auf den Namen, stutzt und blickt suchend auf. Anna und ich grinsen: Sie hat eindeutig einen deutschen Namen vor sich. Die Dame grinst zurück – und ab diesem Zeitpunkt dauert es nur noch zehn Minuten, bis wir beide unsere Tickets inklusive Essensmarken für Abendbrot und Frühstück auf der Trucker-Fähre in Händen halten.
Den restlichen Nachmittag verbringen wir in ehrfürchtigem Staunen auf dem Parkplatz am Rand des Hafenbeckens und schauen den Fähr-Arbeitern dabei zu, wie sie LKW um LKW rückwärts aufs Schiff fahren. Mit einer Präzision, die Gewicht und Ausmaße der LKW vergessen machen, Millimeterarbeit im 40-Tonnen-Bereich. Irgendwann dürfen auch wir an Bord – und meine Ehrfurcht verlagert sich auf meinen Ehemann, der drei Tonnen Bond rückwärts die enge, steile Rampe aufs obere Deck der Fähre hinauf bugsiert. Mit Handzeichen weist uns ein junger Mann in orangefarbenem Overall in unsere Reihe ein, zwischen unsere Stoßstange und die unseres Vordermanns passt gerade mal eine Hand. Gut, dass wir Schiebetüren haben, denn als die Reihe neben uns sich füllt, ist auch auf der Beifahrerseite des Busses kaum noch Platz. Wir zwängen uns zwischen den langen Reihen der LKW hindurch und klettern zwei Decks nach oben, wo im letzten Licht der gerade untergegangenen Sonne die Fähre losgemacht wird. Bye, bye, Baja!
Die Nacht ist kurz, heiß und laut. Die Hitze des vorherigen Tages hat sich unter der Überdachung, unter der unser Bus auf dem Oberdeck geparkt steht, gefangen und sorgt dafür, dass das Thermometer selbst am nächsten Morgen noch 27 Grad im Fahrzeuginnern anzeigt. Die Kühl-LKW um uns herum lassen die ganze Nacht ihre Motoren laufen, damit ihre verderbliche Fracht das Festland unbeschadet erreicht. Die mächtigen Dieselmotoren der Fähre bringen den Stahlrumpf des Schiffs zum Dröhnen, aber irgendwie gelingt es uns, in diesem Knäuel aus Geräuschen und trotz der drückenden Hitze ein paar Stunden zu schlafen. Immerhin haben wir unser bequemes Bett: Als ich mich kurz vor dem Schlafengehen nochmal zwischen den ganzen Fahrzeugen Richtung Toilette durchquetsche, sehe ich in vielen Transportern Männer über Beifahrer- und Fahrersitz ausgestreckt oder zusammengekauert auf einem der Sitze schlafen – manche von ihnen müssen sich den knappen Platz im Führerhaus sogar teilen. Am Morgen schlurfen wir mit müden Augen in die kleine Kantine, in der wir schon am Abend zuvor einen unserer Essensgutscheine eingelöst haben: In der Durchreiche zur Küche sitzt der selbe vielleicht vierjährige Junge, der dort schon gestern auf dem Handy seiner Mutter, der Köchin, Zeichentrickfilme angeschaut hat. Ich stelle mir vor, wie es ist, auf so einem Küchenmöbel aufzuwachsen. Der Kleine ist quietschvergnügt und seine Mama drückt ihm ab und zu einen Kuss auf den Scheitel, wenn sie Teller mit Essen herausreicht. In Deutschland würden sich Gastroaufsicht und Jugendamt vermutlich gegenseitig in Empörung überbieten – hier geht das als Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch. Die Trucker lächeln dem Jungen zu, wenn sie ihre Teller in Empfang nehmen, niemand meckert.
Endlich legen wir in Mazatlan an und rollen von der Fähre. Wir haben heute noch etwa 300 Kilometer vor uns: Es gilt, schnellstmöglich aus dem Bundesstaat Sinaloa herauszukommen, in dem Mazatlan liegt. Der wird vom Auswärtigen Amt als gefährlich eingestuft, und die Ausschreitungen und Straßensperren, die es Anfang Januar nach der Gefangennahme eines der meistgesuchten Drogenbosse der Welt dort gegeben hat, sorgen zusätzlich dafür, dass wir die Warnungen sehr ernst nehmen. Zum Glück führt eine Mautstraße in den angrenzenden Bundesstaat Nayarit: „Cuotas“, so hat man uns gesagt, gelten im Großen und Ganzen als sicher. Und teuer, wie wir nach der ersten Mautstation feststellen: Am Ende des Tages werden wir umgerechnet fast 50 Euro Cuota für die knapp 300 Kilometer bezahlt haben. Viel Geld für mexikanische Verhältnisse. Wir fahren durch Mazatlan, und meine Augen saugen begierig die Szenerie um uns herum auf. Nico lenkt den Bond durch die Straßen der quirligen Hafenstadt, die auch Ankerplatz für Kreuzfahrtschiffe ist, und ich sehe durchs Fenster amerikanische Rentner mit großen Sonnenhüten über die Gehsteige spazieren. Große Bäume beschatten die Straßen – ein Anblick, der seltsam fremd geworden ist nach fast neun Wochen in der halbwüstenartigen Landschaft von Baja California. Einmal aus der Stadt heraus, erstrecken sich rechts und links von uns endlose Mais- und Agavenfelder, grün bewachsene Hügel, mehr Bäume, die sich im Wind wiegen.
Nach etwa eineinhalb Stunden – wir sind immer noch in Sinaloa – passieren wir einen Checkpoint. Etwas, das wir bereits ein halbes Dutzend Mal auf der Baja getan haben: Militär oder Polizei kontrolliert kurz die Fahrzeuge auf Waffen oder Drogen, wir mit unseren europäischen Kennzeichen werden meistens nur kurz gefragt, woher wir kommen und wohin wir wollen, dann dürfen wir weiterfahren. Dieses mal nicht: Ein Mann in dunkler Kleidung und einem großen karierten Tuch um den Hals bedeutet uns, rechts ran zu fahren. Auch Anna und Anne werden rausgewunken, das neuseeländische Pärchen, mit dem wir seit der Fähre im Konvoy fahren, ebenfalls. Wohin wir wollen. Ob wir Dollar bei uns tragen. Woher wir kommen. Wie viel Pesos wir dabei haben. Ob wir wirklich keine Dollar bei uns tragen. Das alles will der Mann durch die heruntergelassene Scheibe auf der Fahrerseite wissen. Dann fordert er uns auf, ihn ins Innere des Busses zu lassen. Schaut in die Schränke – mit völlig anderer Attitüde als am Tag zuvor der Inspektor im Hafen. Ob wir auch ganz sicher keine Dollar an Bord haben. Drogen? Eine Frau in ebenfalls schwarzer Kleidung und kariertem Halstuch steigt zu mir und dem Mann in den Bond und fragt mich, wie viele Pesos ich dabei habe. Beginnt, mich abzutasten. Zieht die Reißverschlüsse meines Geldgürtels auf, den ich unter dem T-Shirt um die Taille trage. Steckt die Hände in die Taschen meiner kurzen Hose und zieht ein paar Peso-Scheine und ein benutztes Taschentuch heraus. Mit einem letzten Rundrum-Blick verlassen die beiden den Bus und bedeuten uns, weiter zu fahren. Was zur Hölle war das bitte? Als auch die anderen beiden Fahrzeuge unserer Gruppe endlich weiterfahren dürfen, beginnen Nico und ich zu diskutieren. Ich habe das ganze Prozedere eher stoisch über mich ergehen lassen: Wir reisen hier halt in einem Land, in dem es solche Kontrollen gibt, solange dabei nichts passiert, habe ich beschlossen, mir darüber nicht weiter den Kopf zu zerbrechen. Nico hingegen beginnt sofort mit der Situationsanalyse. Wer waren diese Leute (garantiert keine Polizei oder Militär)? Was wollten sie (Geld klauen?)? Sind meine Bank- und Kreditkarten noch in meinem Geldgürtel (ja, sind sie)? Als wir endlich in Tepic auf dem lauschigen kleinen Campingplatz ankommen, der unser Tagesziel ist, bestürmen wir uns gegenseitig mit Fragen. Anna und Anne, die schon vor einem Jahr einige Monate auf dem Festland gereist sind, bestätigen: Das war die dubioseste Kontrolle, die sie je erlebt haben. Auch die Frauen aus den anderen beiden Vans wurden abgetastet, „wir sollten uns möglichst unwohl fühlen“, meint Anna. Nico vermutet ein Ablenkungsmanöver dahinter. Es fehlt jedoch in keinem der Fahrzeuge etwas. Als wirklich bedrohlich hat eigentlich niemand von uns die Situation empfunden – sauber oder gar offiziell war sie aber mit Sicherheit nicht, lautet am Ende unser Fazit. Auf die nächste Kontrolle dieser Art sind wir jedenfalls vorbereitet: Wertsachen selbst im Fahrzeug unzugänglich verstecken (das hatten wir allerdings ohnehin schon getan) und kein Bargeld im Zugriff haben, um keinen der vielen himmelschreiend unterbezahlten Polizisten, Soldaten oder Freibeuter in Versuchung zu führen.
Und jetzt sitzen wir hier, in dem kleinen, grünen Paradies des Campingplatzes in Tepic, und ich erfreue mich an der üppigen Vegetation und dem Vogelzwitschern. Eigentlich wollten Nico und ich heute schon weiter, da wir in ein paar Tagen im noch 1.000 Kilometer entfernten Mexiko Stadt sein müssen. Aber wir haben den Baja-Schlendrian einfach noch um einen Tag verlängert und sind geblieben, weil es hier so schön ist. Vorhin hat der Campingplatzbesitzer den Rasen gemäht und sein Auto gewaschen, jetzt schnattert der Rasensprenger. Alles erinnert mich an einen trägen Samstag in Deutschland. Willkommen auf dem Festland – wir sind bereit für neue Abenteuer!
oh …das war aber Abenteuer pur. Passt weiterhin gut auf Euch auf.
Spannend der Bericht … danke