Der Weg

Ich gehe ein paar Schritte den Wanderpfad entlang, weg von der Straße – und spüre auf einmal mit aller Macht, dass ich hier ganz alleine bin. Zum ersten Mal seit… ja, wann eigentlich? Ich kann mich nicht mal mehr erinnern, wann ich zum letzten Mal ohne Nico irgendwo hin gegangen bin. Schon gar nicht auf einen Wanderpfad. Aber er ist müde und hat keine Lust, sich das x-te blubbernde, dampfende oder in bunten Farben schillernde Wasserloch im Yellowstone Nationalpark mit mir anzugucken. Also lasse ich ihn im Bus zurück und ziehe alleine los. Nur eineinhalb Kilometer ist der Weg von Parkplatz zum Morning Glory Pool lang – aber schon nach 150 Metern bin ich soweit, umzudrehen. So still ist die Stille plötzlich. Mir ist unheimlich. Nicht nur bin ich  – natürlich – in Bärengebiet unterwegs. In ausgewiesenem Grizzly-Gebiet sogar. Auch stehe ich nach hundert Metern schon vor einem Zaun, der den auf meiner Wanderkarte geradeaus verlaufenden Pfad nach links zwingt. Eigentlich nichts ungewöhnliches im Yellowstone: Der Park liegt auf einem gigantischen Vulkan und hypothermische Aktivitäten sorgen dafür, dass an immer wieder neuen Stellen die Erde dampft und kocht. Entsprechend müssen Wege immer wieder umgeleitet werden. Aber ich werde trotzdem unsicher. Ist das der richtige Weg? Nach fünfzig weiteren Metern sehe ich an der Stelle, an der die Umleitung in den dichten Wald eintaucht, eine zusammengesunkene Gestalt hocken. Kapuze tief ins Gesicht gezogen, den Kopf gesenkt. Die Körperhaltung erinnert mich reflexartig an die Junkies in Köln an den Straßenbahnhaltestellen. Ich bremse ab  und beschließe, mir die Ausrede durchgehen zu lassen, dass der Weg ja eigentlich irgendwie gesperrt ist. Und zurück zum Bus zu gehen, ohne den Morning Glory Pool gesehen zu haben. Der soll eh nicht mehr so eindrucksvoll aussehen, weil ständig Leute Müll oder Steine hineinwerfen, der die Bakterien beim Produzieren der Farbenpracht behindert. Gleichzeitig schimpfe ich innerlich mit mir, was ich doch für eine feige Trulla bin und nicht mal eineinhalb Kilometer wandern kann, ohne dass mir einer das Händchen hält. Bleibe wieder stehen und ringe mit mir und meinem Stolz. Auf dem Weg taucht eine kleine Gruppe von Leuten auf, die offenbar ebenfalls zum Morning Glory Pool wollen. Hm. Wenn jetzt der Bär kommt, bin ich nicht mehr alleine. Eine Gruppe wird er nicht angreifen. Außerdem werden diese vielen Leute verhindern, dass mich die zusammengesunkene Gestalt am Waldesrand blöd anquatscht oder bedrängt. Ich warte, damit die Gruppe zu mir aufschließen kann. Sie läuft unfassbar langsam. Ich denke: Ich muss ja nicht mit ihnen zusammen laufen, es reicht ja, sie hinter mir zu wissen. Und gehe los, auf den Waldrand zu. Auf die zusammengesunkene Gestalt. Eine Frau in meinem Alter, schicke Brille, gute Wanderstiefel. Sie blickt auf und lächelt mich an. Offensichtlich macht sie hier nur ein Päuschen. Ich schäme mich für die Unterstellungen, die meine überaktive Fantasie ihr gemacht hat.

Ich gehe sehr langsam. Horche bei jedem Schritt angestrengt, ob da nicht ein Bär im Gebüsch rumort. Die Gruppe hinter mir geht noch langsamer. Mir kommt eine einzelne Wanderin entgegen. „Weiter vorne steht recht nah am Weg ein Bison“, berichtet sie mit leuchtenden Augen. „Ein bisschen gruselig, so nah am Weg, aber es grast da einfach nur. Hat nicht mal hochgeguckt.“ Vor zwei Tagen haben wir auf der Fahrt aus dem Yellowstone Park hinaus im Abendlicht eine große Herde Bisons ganz nah an der Straße gesehen. Eindrucksvolle, riesige Kreaturen. Und nicht ungefährlich: Jedes Jahr passieren im Yellowstone deutlich mehr Zwischenfälle mit Bisons als mit Grizzlys. Das gute, wenn man beim Wandern die ganze Zeit nach einem angekündigten Bison Ausschau hält: Man vergisst, vor den Bären Angst zu haben. Die nächste allein wandernde Frau kommt mir entgegen. Bin ich denn echt die einzige Frau, die hier alleine Schiss hat?? Meine Anspannung bleibt, aber gleichzeitig lasse ich mich von der Schönheit des Weges, der Herbstsonne und – ja – des Alleinseins betören. Fotografiere den fröhlich dahinrauschenden Fluss, zwischen Felsen brodelnde Tümpel, dampfende Geysire. Schaue immer wieder, ob ich das Bison sehe – bis es plötzlich links neben mir auftaucht. Ergriffen verharre ich. Was für ein ehrfurchteinflößendes und wunderschönes Tier. Bestaune es ein paar Minuten lang und ziehe mich dann schnell zurück, als es aufschaut: Was weiß ich schon, was so ein Bison als ausreichend Privatsphäre empfindet und ab wann es sich bedrängt fühlt und Lust verspürt, mich umzurennen und niederzutrampeln?

Der Morning Glory Pool am Ende des eineinhalb Kilometer langen Weges ist alles andere als reizlos. Mag ja sein, dass er bis vor ein paar Jahren in noch strahlenderen Farben dalag. Aber da mir der Vergleich fehlt, bin ich trotzdem beeindruckt. Als ich genug gestaunt habe, mache ich mich auf den Rückweg. Fühle mich jetzt, da ich den Weg kenne, mutig und kompetent. Auch ohne die Gruppe hinter mir, die erst zehn Minuten nach mir am Morning Glory Pool angekommen ist. Hole am Bison, das immer noch seelenruhig vor sich hin grast, einen jungen Mann ein, der das Tier ebenfalls beobachtet. Zwei ältere Ladies schließen zu uns auf und gucken mit. „Sehen Sie mal, da hinten, da sind noch drei weitere Bisons! Die habe ich bisher gar nicht gesehen“, sage ich und zeige auf drei braune Silhouetten etwa 200 Meter weit entfernt. Kneife dann die Augen zusammen und korrigiere mich: Das ist eine Grizzly-Mutter mit zwei Jungen! Die Ladies kramen hektisch in ihrem Rucksack nach dem Bärenspray (tsss, das hat man griffbereit am Gürtel oder in der Jackentasche!). Ich wünsche mir mein Fernglas, um die Bären besser sehen zu können. Ich spüre keine Angst. Nur Respekt. Als sie sich allmählich in unsere Richtung bewegen, gehe ich weiter – näher muss ich ihnen nicht kommen.

Als ich schließlich aus dem Wald heraustrete, bin ich innerlich einen halben Meter größer. Glücklich, dass ich einen so wunderschönen Weg gegangen bin und stolz, dass ich mich getraut habe. Dass ich trotz Angst gegangen bin – nicht ohne Angst. Und dass ich dafür jetzt mit dem Gefühl belohnt werde, ein kleines bisschen mehr Sicherheit und Erfahrung gewonnen zu haben. Noch zehn so Nummern und ich trau‘ mich vielleicht von Anfang an!

Unsere übrigen Yellowstone-Geschichten lasse ich die Bilder erzählen, die wir von diesem bizarren und surrealen Ort gemacht haben. Dem ältesten Nationalpark der Welt, an dem es an jeder Ecke dampft und nach Schwefel riecht, an dem die Erde in allen Farben des Chemiebaukastens schimmert, in dem Bisons und Bären, Wapitis, Wölfe, Koyoten und Elche zuhause sind (außer Wolf und Elch haben wir sie alle gesehen!), hunderte Vogelarten und ein ganzer Kosmos weiterer Lebewesen. Und dessen Ausmaße so gewaltig sind, dass wir am Ende unseres dreitägigen Aufenthalts fast 500 Kilometer auf dem Tacho haben – und dabei gerade mal die Hälfte des Parks gesehen.

3 Kommentare

Schreibe einen Kommentar zu Rume Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert