Los Cabos

Als wir die Südspitze von Baja California erreichen, erwarten wir nicht viel. Oder vielmehr: Wir erwarten, dass sich alle unsere sorgfältig gesammelten Vorurteile bestätigen und es hier unten außer zugebauter Küste und den üblichen Insignien des Massentourismus‘ – Hotelburgen, Restaurants, Souvenirshops und Ausflugsanbieter – nicht viel zu sehen gibt. Die Gegend zwischen Cabo San Lucas und San José del Cabo – von findigen Touristik-Marketingprofis längst in das schlichtere und für die Zielgruppe leichter zu merkende „Los Cabos“ umgetauft – befindet sich seit 15 Jahren fest in der Hand amerikanischer Badeurlauber. Wie die Deutschen Mallorca haben die Westküsten-Amerikaner „die Cabos“ eingenommen: leicht in zwei oder drei Flugstunden erreichbar, schöne Strände, klares Wasser und durchschnittlich unglaubliche 360 Sonnentage im Jahr – überzeugende Fakten für den idealen All Inclusive-Urlaub. Und eigentlich so gar nicht unser Beuteschema. Aber Nico braucht dringend einen Haarschnitt, wir haben kein Gas mehr zum Kochen, unser Kühlschrank ist leer und irgendwie kitzelt uns auch die Lust, nach fast acht Wochen zwischen Kakteen, Strand-Camping und staubigem Highway mal wieder für einen oder zwei Tag Stadtluft zu schnuppern. Also beschließen wir, uns nach San José del Cabo zu wagen, das angeblich etwas weniger betriebsame der beiden Cabos, in dem noch etwas von dem mexikanischen Flair des ehemaligen Missions-Städtchens zu spüren sein soll. Wir trennen uns für ein paar Tage von Anna und Anne, die ein Paket in La Paz abholen müssen, und verabschieden uns auch fürs Erste von Sissi und Jannis, die Anfang der Woche aufs Festland übersetzen wollen. Programmieren einen Friseurladen für Nico ins Navi ein und brausen los.

Während Nico auf dem Barbierstuhl sitzt und zu den Klängen feinster Rockmusik (ganz nach unserem Geschmack!) gekonnt zurechtgestutzt wird, suche ich nach einer Möglichkeit, unsere knurrenden Mägen zu füllen. Das Angebot ist mehr als üppig, und da der Barbier sich direkt am Rande der Altstadt befindet, stellen wir den Bond auf einem bewachten Parkplatz ab und marschieren los. Meine Vorurteile werden umgehend bestätigt: Restaurant an Restaurant, lauter kleine Läden, alles für die Touristen herausgeputzt. Und zerbröseln im selben Moment schon wieder zu Staub: Weil das alles einfach total hübsch und charmant wirkt. Keine billige Ballermann-Ästhetik mit grellen Schildern, die für Bratwurst und Bier werben, sondern hübsche Fassaden, geschmackvoll dekorierte Schaufenster, edel designte Bars mit großen Glasfronten und geschmückte Patios, in die ich mich sofort setzen und ein Glas Wein trinken möchte. Und genau das tun wir dann auch. Setzen uns in einen liebevoll bepflanzten Innenhof, bestellen für viel zu viel Geld einen viel zu kleinen Salat und ein Glas Weißwein und fühlen uns, als wären wir im Urlaub. Die Nachmittagssonne scheint zwischen Sonnensegeln und Palmen hindurch, es riecht nach gebratenem Fisch und Sonnencreme, über uns flattern bunte Fähnchen-Girlanden, die wir schon in vielen anderen Orten auf der Baja California gesehen haben. Nach dem Essen streifen wir durch die Gassen der Altstadt, über den Zócalo, an dem von Palmen umrahmt die alte Missionskirche steht und erfreuen uns an den schmucken Ecken und Winkeln des Örtchens.

Am nächsten Abend machen wir uns erneut auf den Weg in die Altstadt, mit einem Abstecher in das kleine Seafood-Restaurant „El Pulpo Macho“, in einem Viertel jenseits der touristischen Pfade gelegen. Ein unscheinbarer Laden, dessen schlichtes Ambiente in krassem Gegensatz zur fantastischen Qualität des Essen steht: Wir lernen Ceviche kennen, in Limette eingelegte Meeresfrüchte, die durch die Zitronensäure der Limetten gegart werden – eine geschmackliche Offenbarung! In der Altstadt schlendern wir mit beginnender Dämmerung über die Kunstmeile, donnerstagabends öffnen hier die Galerien ihre Pforten für Schaulustige. Lassen uns hineinziehen ins bunte Treiben der Urlauber, über einen Kunsthandwerk-Markt, der die Preise in Dollar angibt, nicht in Pesos (die Zielgruppe bleibt somit kein Geheimnis) und vorbei an zahllosen Bars und Restaurants. Und ich leiste innerlich Abbitte wegen meiner Vorurteile: Klar, mag ja sein, dass das hier alles nur für die Touristen inszeniert ist. Aber was soll‘s, es ist stil- und stimmungsvoll gemacht – und gegen eine gute Inszenierung ist schließlich nichts einzuwenden, wenn man doch genau deswegen gekommen ist.

Das eigentliche Highlight unseres Besuchs indes finden wir am Rande von San José del Cabo: Die „Rancho El Clandestino“, etwas außer- und oberhalb des Ortes gelegen und nur über staubige Sandwege zu erreichen. Seit einem halben Jahr betreibt Sergio den kleinen Campingplatz, zwischen Felsen und Kakteen in den Hang geschmiegt, und hat ein kleines Paradies geschaffen. Das Herzstück: ein Gemeinschaftsbereich unter freiem Himmel, mit offener Küche, großen Holztischen und langen Bänken daran, verstreuten Sesseln, zwei riesigen Hängematten, alles umrahmt von langen Lichterketten, die im Dunklen warm zwischen den Kakteen und Palmen leuchten. Wir lernen Daniel kennen, einen vergnügten und hilfsbereiten jungen Mann aus Michoacàn, der vor drei Monaten als Gast mit zwei Hunden und einer Katze auf die Ranch kam – und sich heute als Manager und rechte Hand Sergios um den Platz kümmert. Jim, ein Lausbub von über Siebzig mit einem nicht enden wollenden Vorrat an Abenteuer- und Hippie-Geschichten, und seine reizende Frau Lou-Ann aus der Nähe von Chicago, die mit ihrem uralten VW T3 vor dem Winter in Illinois geflüchtet sind, eine Nacht auf der Ranch bleiben wollten – und inzwischen seit zweieinhalb Monaten hier leben (wir bekommen schnell das Gefühl, im „Hotel California“ von den Eagles gelandet zu sein: „You can check out any time you want, but you can never leave“…). Andrew, einen fröhlichen jungen Kanadier, der ein paar Wochen Auszeit von seinem Job genommen und sich einmal quer durch Cabo San Lucas (das andere Cabo, die Partystadt) gefeiert hat; und der nun die letzten paar Tage vor seiner Heimreise auf der Ranch ausklingen lässt. Fernando, Mitte 50, Argentino-Amerikaner und IT-Profi, der zwei Wochen zuvor in San Diego in sein Auto gestiegen ist, um einen Business-Termin in Tijuana wahrzunehmen – und dann einfach immer weiter Richtung Süden fuhr, weil er keine Lust auf die Rückkehr ins kalte Kalifornien hatte, als er feststellte, dass er seine Arbeit genauso gut von unterwegs erledigen kann. Sara, seine chilenische Frau, die sich irgendwann erkundigte, wo er denn bliebe – um dann ins nächste Flugzeug zu steigen und ihn auf der ungeplanten Reise zu begleiten. Monica und Gonzalo, ein junges Musiker-Paar aus Vancouver mit spanischen bzw. peruanischen Wurzeln, die auf der Ranch an ihrem ersten gemeinsamen Album arbeiten (sie wollten eigentlich auch nur für eine Nacht bleiben, aber, nun ja, wie das eben so geht…). Dieser Ort, die Ranch, scheint Abenteurer anzuziehen – und wir kommen uns in diesem Kreis beinahe spießig vor mit unserem sorgsam angesparten Reisebudget und unserem perfekt für unsere Bedürfnisse ausgestatteten Fahrzeug.

Wir genießen die Geschichten, die Abends bei Bier und Tequila erzählt werden. Die liebevollen Sticheleien zwischen Daniel und Jim, dem jungen Mexikaner und dem alten Amerikaner, die sich die ganze Zeit wie die Schuljungs gegenseitig auf die Schippe nehmen, und die sich vor lauter Aufregung fast überschlagen, als sie uns an einem Abend einen riesigen, wütenden Skorpion in einem Glas zeigen, den sie tagsüber beim Buddeln auf dem Platz (irgendwas ist immer zu tun auf der Ranch) versehentlich aufgescheucht und dann sicherheitshalber eingefangen haben. Die Erzählungen von Fernando, der schon als junger Mann mit dem Fahrrad und nichts als einer Hängematte im Gepäck die Strecke von England bis Ägypten zurückgelegt hat und seitdem auf allen Kontinenten gereist ist. Die Freundlichkeit von Sara, die uns Tipps für Chile gibt und uns nachdrücklich klar macht, dass wir sie kontaktieren sollen, sobald wir in Südamerika angekommen sind, weil sie Freunde in Kolumbien, Ecuador, Peru und natürlich Chile hat – und wir somit Anlaufstellen. Die leuchtenden Augen von Gonzalo, als er erfährt, dass wir nach Mexico-Stadt reisen werden, eine Stadt, in der jahrelang gelebt hat und für die er umgehend eine ganze Schatzkiste voller Tipps auskippt. All diese bemerkenswerten Menschen und Augenblicke hätten wir verpasst, wenn wir auf unsere Vorurteile gehört hätten.

Nachtrag zu meiner Ehrenrettung: Meine wenig schmeichelhaften Vorstellungen von der Südspitze der Baja California wurden auf der Strecke zwischen den beiden Cabos – äußerst passend „Corredor turístico“ genannt – doch noch bestätigt. Hier reihen sich Fünf-Sterne-Luxus-Resorts von den Ausmaßen niedersächsischer Dörfer, Designer-Golfplätze (jap, sowas gibt es wirklich) und sorgfältig begrünte und blumengeschmückte Anlagen mit teuren Eigentumswohnungen aneinander und versperren den Blick aufs Meer. Alles modern und geschmackvoll angelegt, aber zugleich abweisend in seiner brachialen Größe. Auch Cabo San Lucas, in dessen chaotischem Straßennetz wir uns auf der Durchfahrt verirren, erscheint uns alles andere als verlockend. Aber wer weiß, wenn wir richtig eingetaucht wären und uns darauf eingelassen hätten, bestimmt hätten wir auch hier kleine Perlen gefunden zwischen all dem Katzengold…

6 Kommentare

  1. Hallo Brit und Nico,
    super erzählt und schöne Fotos. Der Bericht ist wieder Klasse so das wir uns regelrecht vor Ort fühlten beim Lesen.
    Also, immer schön Positiv weiter Reisen. LG Monika und Werner

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