Brauchen wir einen Neuen?

Die Frage treibt uns seit Samstagmorgen um – und, verdammt, das fühlt sich nicht gut an. Mr. Norris ist unser Baby. Unser Häuslebauprojekt, in das wir drei Jahre unseres Lebens, Planungsarbeit, Kreativität, Zeit, Geld und vor allem jede Menge Liebe gesteckt haben. Da tut der Gedanke, dass das Ergebnis sich schon nach so kurzer Zeit als nicht gut genug erweisen könnte, weh – nicht nur der Seele, sondern auch dem Ego. Immer mal wieder haben wir in den letzten Wochen, wenn es draußen zu ungemütlich oder zu illegal für ein richtiges Camp war und wir drinnen gehockt haben, festgestellt, dass das auf Dauer nicht besonders bequem ist. Beim Ausbau lag unsere Priorität darauf, dass wir gut schlafen, viel Stauraum haben und technisch top gerüstet sind. Dass wir lange Stunden am Stück drinnen sitzen und lesen, arbeiten, chillen oder quatschen – was man halt so macht zuhause auf der Couch – war nicht vorgesehen. Wir sind in unserer Unerfahrenheit davon ausgegangen, dass all das draußen unter der Markise in unseren bequemen Stühlen im Schein unserer Lichterkette passiert – im Sommer mit Mückenschutz auf der Haut, im Winter mit warmer Kleidung und Daunendecken. Was wir nicht auf der Rechnung hatten: Wind und Orte, an denen wir unser Camp nicht aufbauen dürfen. Beides hatten wir seit September in einem Ausmaß, das uns langsam an unserem Ausbau zweifeln lässt.

Seit drei Tagen diskutieren wir das Thema Vollzeit – seit Nico eine Anzeige für einen L300 mit langem Radstand, Hochdach und Allrad gesehen hat. Sein Traumfahrzeug, was in Deutschland aber so gut wie nie angeboten wird. Griechenland dagegen ist L300-Land: Hier sehen wir jeden Tag vier oder fünf davon herumfahren, auch Modelle, die es bei uns kaum gibt. Und hier steht auch er, bei einem Gebrauchtwagenhändler auf Kreta, ein „großer“ L300, der Nicos gesamte Wunschliste erfüllt. Nicos Augen leuchten, als er die Fotos der Anzeige anschaut. Wie viel mehr Platz wir in dem Ding hätten! Fast Stehhöhe, 40 cm längerer Innenraum (klingt wenig, aber glaubt mir, das wäre ein Quantensprung für uns!), Allrad. Nico sieht sich damit schon all die unwegsamen Straßen hochfahren, die einen großen Abstand zwischen uns und eventuell vorbeikommende Fahrzeuge der Ordnungsmacht bringen würden – Offroad-Pisten fährt niemand zufällig entlang. Meine Augen leuchten nicht ansatzweise; ich bin überfordert. Allein die Vorstellung, noch mal die Energie aufbringen zu müssen, ein Fahrzeug komplett neu auszubauen – von der Dämmung bis zur USB-Steckdose – erschöpft mich. Aber noch mehr macht mir zu schaffen, dass ich schon nach so kurzer Zeit auf Reisen eingestehen soll, dass drei Jahre Arbeit mehr oder weniger für die Katz‘ waren. Dass wir zwar nach bestem Wissen alles so gemacht haben, wie wir es für sinnvoll gehalten haben – aber dass wir eben daneben lagen.

Während Nico „den Neuen“ schon gedanklich entkernt und neu isoliert hat, werbe ich für Mr. Norris. Was können wir an ihm verbessern, um uns auch bei längeren Drinnenaufenthalten zu entspannen und wohl zu fühlen? Ich muss aber schnell einsehen, dass der Bus, egal, was wir tun, davon weder höher noch länger wird – und dass Nico mit seinen 1,92 m darunter mehr leidet als ich. Also den Stier bei den Hörnern gepackt: Was würde es bedeuten, noch einmal einen Bus zu kaufen und auszubauen? Die Zeit haben wir, man könnte den Corona-Winter schlechter nutzen, als auf Kreta (wo wir sowieso hinwollen) drei Monate lang Fulltime zu werkeln. Wir bräuchten eine Unterkunft und eine Werkstatt oder zumindest einen Ort, an dem wir ungestört sägen, bohren und schrauben könnten. Sollte zu finden sein. Wir müssten uns schlau machen, was es bedeutete, ein Fahrzeug in Griechenland zu kaufen und in Deutschland zuzulassen. Ebenfalls eine lösbare Aufgabe. Wir müssten Mr. Norris verkaufen, wenn alles fertig ist. Örghs. Sch…gedanke.

Wir erstellen eine lange Liste mit allen Aufgaben, die auf uns zukommen würden. Wir haben schon einmal ein Fahrzeug ausgebaut, beim zweiten Mal dürfte vieles leichter sein. Grundlegende Entscheidungen haben wir bereits für den ersten Ausbau gefällt, sowas wie unsere gesamte Bordelektronik würden wir einfach aus dem alten in den neuen Bus umbauen. Schwieriger wäre die Materialbeschaffung: In Griechenland gibt es kein Amazon, hier wird überhaupt wenig online gekauft. Wir müssten uns einen Eindruck verschaffen, wie die hiesigen Baumärkte ausgestattet sind und wo man Spezialkram für den Camperausbau herbekäme. Geht erst wieder nach dem Lock-Down, das Thema bleibt also erstmal eine Unbekannte. Und dann wäre da natürlich die finanzielle Frage: Mr. Norris – zumal ohne sein bordelektronisches Herz – zu verkaufen, wäre selbst im günstigsten Fall ein Verlustgeschäft und würde die Ausgaben für „den Neunen“ nicht decken, wir müssten also an unser Reisebudget ran. Als wir die Liste fertig haben, ist Nico immer noch nicht abgeschreckt – und ich, die neue Projekte eigentlich liebt, bin immer noch nicht Feuer und Flamme. Abends telefonieren wir mit Michael und Maria, die einen langen L300 mit Hochdach fahren (und von denen wir uns schon so manche Lösung abgeschaut haben) und befragen sie, was sie gut finden an ihrem Bus und was sie stört. Vielleicht hilft das bei der Entscheidungsfindung? Wir beschließen, eine Nacht darüber zu schlafen – es wird eine unruhige Nacht.

Am nächsten Morgen spielen wir beim Kaffee auf der Terrasse noch mal alles durch und versuchen mit müdem Kopf, Vor- und Nachteile abzuwägen. Und ich werfe erneut den Gedanken in den Ring, noch mal ordentlich in die Schwachstellen von Mr. Norris zu investieren, statt gleich die große Lösung zu wählen. Uns schwirrt der Schädel, gemütlich auf dem Balkon lässt sich das eh nicht entscheiden – jetzt muss mal was Handfestes her. Wir steigen in den Bus und setzen uns auf unsere unbequemen Holzbänke. Wie könnte man es sich mit dem, was wir haben und weiteren Ergänzungen aber ohne einen kompletten Umbau gemütlicher machen? Und haben nach zwei Stunden tatsächlich ein paar zündende Ideen gesammelt, von denen wir beide finden, dass wir sie unbedingt ausprobieren sollten! Unsere Köpfe glühen, als wir mit unseren Matratzenteilen hin- und hermanövrieren, und feststellen, dass man damit durchaus bequeme Rumhäng-Areale schaffen kann (derzeit liegen sie tagsüber immer nur gestapelt und unter einem Laken geschützt im Heck des Busses – eigentlich eine verschwendete Ressource); Schlafsäcke und Daunenjacken probeweise in zwei große Kopfkissenbezüge aus dem Appartement stopfen, um sie zu bequemen Rückenstützen umzufunktionieren; das Bettbrett, mit dem ich mich jeden Morgen und jeden Abend fluchend rumquäle, weil es so verflixt schwer ist, rauswerfen und entdecken, dass das Bett auch ohne funktioniert – wir ohne aber Platz gewinnen und uns beim Aussteigen morgens nicht mehr die Schienbeine stoßen. Ein halbes Dutzend Kleinigkeiten fallen uns noch ein, mit denen wir die vielen lästigen Handgriffe im Bus etwas vereinfachen können – am Abend haben wir eine lange Einkaufsliste bei Amazon erstellt, von der wir hoffen, dass sie uns irgendjemand zu einem großen Paket schnürt und nach Griechenland schickt, sobald sie vollständig ist.

Und Nico knobelt seit gestern an einer Lösung, wie wir warmes Wasser haben könnten ohne dafür immer einen Topf auf den Herd zu setzen (und vorher den Herd aufzubauen). Während sich hier der Abend über unsere Terrasse senkt, hockt er neben mir und skizziert Schaltkreise – warmes Wasser wäre, wie so vieles, nicht nötig für diese Reise, würde sie aber so viel komfortabler machen. Und dass das bei aller Abenteuerlust auch wichtig ist, lernen wir ja gerade. Brauchen wir dafür gleich einen Neuen? Erstmal nicht – erstmal schauen wir, was wir noch aus dem guten alten Mr. Norris rausholen können!

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