Zeitloch

Irgendwie sind wir in ein Zeitloch gefallen. Ich muss auf dem Kalender nachzählen, wie viele Tage und Nächte wir schon in dieser Bucht stehen. Neun. Wahnsinn. Bevor wir in Kalamata in eine feste Unterkunft gezogen sind, haben wir immer nur eine einzige Nacht irgendwo frei gestanden, immer hatten wir das Gefühl, nicht länger bleiben zu können oder zu wollen, weil wir jemanden stören oder unangenehm auffallen könnten. Seit wir unsere Reise nun ein zweites Mal begonnen haben, suchen wir uns unsere Stellplätze selbst: Wir investieren ein wenig Zeit und gucken auf Open Street Maps-Karten herum (die zeigen kleine Wege und Gelände besser an als Google Maps, das eher für Autofahrer oder in Städten hilfreich ist), suchen nach Sackgassen, Ecken ohne Gebäude oder Buchten ohne Infrastruktur. Nehmen interessante Spots in der Satellitenansicht unter die Lupe – und haben auf diese Weise bisher ein paar richtig gute Stellplätze gefunden, an denen wir niemanden stören und uns sicher und wohl fühlen. Wenn ich an die Wochen auf Sardinien denke und die Zeit nach der Begegnung mit der Polizei, bin ich sehr dankbar, dass wir das Gefühl des Auf-der-Hut-sein-Müssens wieder komplett abgeschüttelt haben. Wir breiten uns nicht groß aus an unseren Übernachtungsplätzen und versuchen, kein Störfaktor in der Landschaft zu sein. Das gefällt aber auch uns besser, schließlich gibt es Gründe, weswegen wir lieber irgendwo wild stehen als auf dem Campingplatz.

Möglich, dass das Gefühl, in dieser Bucht gut zu stehen, zum Zeitloch beigetragen hat. Irgendwie tüdeln wir den ganzen Tag so vor uns hin – und lernen dabei das Leben im und am Bus noch mal ganz neu kennen. All das, was uns in den ersten Wochen unserer Reise so viel Kraft gekostet hat – dass jeder, aber auch wirklich jeder Handgriff in diesem kleinen Bus-Haushalt umständlich und aufwendig ist – läuft jetzt fast ohne nachzudenken. Dabei hat sich im Außen eigentlich nichts geändert: Hier im Bus geht nichts „mal eben schnell“. Mal eben schnell ne Tasse Kaffee, eben schnell unter die Dusche, eben schnell die Wäsche anwerfen, eben schnell spülen – geht alles nicht. Immer müssen wir erst alles rauskramen aus Bänken oder Küchenbox, wo wir unseren Hausstand ineinander gestapelt und verschachtelt aufbewahren, um den wenigen Platz so effizient wie möglich zu nutzen; den Kocher aufbauen, Wasser aus einem Hahn mit einer Fließgeschwindigkeit von zwei Litern pro Minute zapfen und über der Flamme erhitzen. Zum Geschirrspülen die Spülschüssel und Hocker als Ablagefläche zum Trocknen des Geschirrs aufbauen. Zum Duschen… – ach, ich denke, Ihr versteht, was ich meine. Alles ist hundert mal aufwendiger als in einem „normalen“ Haushalt (womit auch die immer mal wieder auftauchende Frage danach, was wir eigentlich so den ganzen Tag machen, hinlänglich beantwortet sein dürfte: Wir versorgen uns).

Nicht falsch verstehen: Wir beschweren uns nicht, wie haben das genau so gewollt. Aber erst jetzt  – vier Monate nach unserem Aufbruch in dieses Abenteuer, fühlt es sich gut und freudvoll an. Das Herumwerkeln des Bus-Alltags, das Vergessen der Zeit, das Fehlen eines konkreten Tages- oder Reiseziels, ja, überhaupt die Abwesenheit jeglichen Plans. Und damit die Abwesenheit konkreter Erwartungen. Keine Ahnung, ob das jetzt immer so bleibt, aber DAS ist es, was ich am Anfang der Reise so unbedingt zu spüren gehofft hatte und was sich so gar nicht einstellen wollte. Jetzt denke ich nicht mehr darüber nach – und es ist plötzlich da. Wir genießen jeden Morgen, an dem die Sonne uns ins Gesicht scheint, wenn wir die Heckklappe öffnen. Kriegen aber auch bei Kälte und Regen nicht sofort schlechte Laune (Zufriedenheit hängt also offensichtlich nicht vom Wetter ab, und diese Erkenntnis hat einen gewissen Wert, wenn sie einen in einem Leben außerhalb einer warmen Wohnung ereilt). Gehen x-mal am Tag an unseren paar Metern Strand spazieren, und ich muss immer wieder Fotos vom Meer und vom Himmel und von dem tollen Licht machen. Gucken auf dem Blumenmeer herum, das neulich morgens einfach so neben uns aus der Wiese emporgewachsen zu sein scheint. Betrachten auf dem Weg zum etwa 15 Gehminuten entfernt stehenden Müllcontainer eine gruselig-faszinierende Gottesanbeterin, die sich auf den Steinen sonnt. Finden manchmal Lagerfeuer abends zu anstrengend (obwohl das Holz fertig gehackt neben dem Bus liegt und die Feuerschale griffbereit daneben) und spielen lieber drinnen Kniffel. Machen also gar nichts besonders Tolles oder Aufregendes – und vergessen trotzdem oft Raum und Zeit um uns herum.

Klar träumen wir noch vor uns hin. Spielen mit Ideen, was wir tun, falls wir auch im Frühjahr oder Sommer noch nicht auf den amerikanischen Kontinent reisen können (was wir ehrlich gesagt fast als gesetzt betrachten – wird also vermutlich noch mal ne lange Extra-Runde Europa, vielleicht sogar mehr Deutschland als gedacht, wenn das mit der Pandemie so weiter geht). Aber anders als im letzten Frühjahr, wo es vor allem mich (Nico ist da gedanklich viel flexibler) unheimlich viel Kraft gekostet hat, Pläne wieder zu ändern und sich der neuen Corona-Realität zu stellen, finde ich es gar nicht schlimm, jetzt noch nicht zu wissen, was im Mai ist. Oder am Samstag. Und das ist für jemanden, der Uhr und Terminkalender eigentlich fest in der DNA installiert hat, echt bemerkenswert. Ich find’s gut.

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