Bienvenidos a México

Als wir in Tecate aus dem Bus steigen und im Nieselregen auf die niedrigen Grenzgebäude zugehen, flutet eine schwarze Welle durch mein Gehirn – und löscht alles, was ich dort in der Rubrik „Grenzübertritt von den USA nach Mexiko“ sorgsam abgespeichert hatte. Ich starre auf die Ansammlung kleiner Gebäude und versuche mich zu erinnern, was Anna und Anne uns zu den Einreise-Formalitäten gesagt hatten. Minutiös haben sie vor ein paar Tagen ihr Wissen und ihre Erfahrungen mit uns geteilt, ganz genau hatte Anna mir beschrieben, in welchem Gebäude und hinter welcher Tür wir uns zuerst um die Touristenkarte FMM (Forma Migratoria Múltiple), die jeder Reisende in Mexiko benötigt, kümmern. Und wohin wir dann von dort mit den Kopien unserer Reisepässe, des Fahrzeugscheins und eben dieser FMM gehen müssen, um ein TIP (Temporary Import Permit) zu beantragen, die Einreisepapiere für unseren Bus. Mehrmals habe ich die Abläufe in den letzten Tagen gedanklich durchgespielt, um so gut wie möglich auf diesen Grenzübertritt vorbereitet zu sein – ist Mexiko doch das erste Land auf dieser Reise, das für uns wirklich fremd und unbekannt ist. Wir waren beide noch nie hier, und nach einer ausgesprochen unangenehmen Wiedereinreise in die USA nach meinem Deutschland-Aufenthalt im November möchte ich lieber über-vorbereitet sein als zu wenig. Und jetzt: Blackout, wie in jeder Mathearbeit meiner bis heute gelegentlich zu diesem Thema auftauchenden Alpträume. Was hatte Anna gesagt? Das rechte oder das linke Gebäude? Blaue Treppe? Glastür? Nico und ich stolpern in entgegengesetzte Richtungen los. Dann übereinander. Um die Augen der mexikanischen Grenzbeamten in ihren schwarzen Uniformen mit den bis über die Nasenspitzen gezogenen Tüchern, die sie vor dem Nieselregen und vermutlich auch vor Corona-Viren schützen, erscheinen Fältchen. Sie amüsieren sich – und zeigen dann nach links. Aha.

Schon direkt, nachdem unser Bus an die Grenze gerollt ist und dort zur standardmäßigen Fahrzeuginspektion herausgewunken wurde, haben wir ihnen Anlass zu Amüsement geboten: Obwohl Anne uns genau geschildert hatte, wo an unserem Sprinter sich die VIN – die Fahrzeugidentifikationsnummer – befindet, können wir sie vor lauter Aufregung nicht finden. Irgendwo auf der Innenseite des Radkastens auf der Beifahrerseite – aber die ist vollständig mit Dreck verkrustet. Wir reiben an diversen Stellen den Schmodder herunter, zum Vorschein kommt aber immer nur blankes Blech. Die Grenzerin und die beiden Herren vom Militär, die eigentlich das Innere unseres Busses inspizieren sollen, aber offenbar lieber dem Spektakel unserer hektischen Suche nach der VIN beiwohnen, prusten leise in ihre Schals. Nico lässt mehrfach den Wagen an, um die Vorderreifen so zu drehen, dass wir auch an andere Stellen im Radkasten herankommen. Dann – endlich – erscheint unter einer Dreckschicht die ins Blech geprägte Nummer. Puh. Die Grenzerin grinst und reckt den Daumen hoch. Gleicht die Nummer mit der in unseren Papieren ab – und wir dürfen durchfahren. Bus neben den Grenzgebäuden parken, dann auf zum Papierkram. Dem Hinweis der Grenzer folgend nach links. Durch den Blackout hindurch denke ich „Was für ein Glück, dass die Leute hier so geduldig und hilfsbereit sind.“ Es wird nicht besser, auch das bisschen Spanisch, das Nico und ich uns in den letzten Monaten fleißig angeeignet haben, verschwindet in der schwarzen Welle, die durch mein Gehirn spült. Der Beamte, der uns das Formular für die Touristenkarte aushändigt, spricht makelloses Englisch, und auch die Unterlagen sind zweisprachig. Ich würde lieber nicht das Klischee des Gringos erfüllen, der sich überall darauf verlässt, dass Englisch gesprochen wird. Aber jetzt ist nicht die Zeit für ehrgeizige Sprachübungen. Wir füllen die Formulare aus und werden nach draußen geschickt, um an einem Kassenhäuschen neben dem Gebäude die Gebühren für die FMM zu begleichen. Auch hier wird Englisch gesprochen, auch hier bewahrt uns die Geduld der beiden Kassendamen vor dem völligen Gesichtsverlust. Alle Papiere und Geldbeträge hatte wir gestern Abend sorgsam in einer Dokumententasche zusammengelegt – jetzt kramen wir wie von Sinnen in dem Beutel herum, lassen die Hälfte fallen, stecken die andere Hälfte geistesabwesend in die Handtasche, um sie dann Sekunden später verzweifelt in der Dokumententasche zu suchen. Oh Europa, was hast Du uns zu unerfahrenen Grenzgängern gemacht mit Deinem freien Personen- und Warenverkehr… Wir schaffen es, unsere Gebühren zu begleichen. Dann wieder rein zum FMM-Beamten, Stempel in unsere Reisepässe – wir dürfen 180 Tage in Mexiko bleiben! Wieder zurück zum Kassenhäuschen, an dem wir auch das TIP beantragen müssen. Mehr Formulare, mehr Stempel, der Nieselregen tropft mir in den Nacken, aber das nehme ich nur am Rande meines Bewusstseins wahr. Dann darf auch unser Bus nach Mexiko einreisen. Wir taumeln zum Bond zurück, lächeln noch einmal den vermummten Gestalten von der Fahrzeuginspektion zu (ich schwöre, die kichern immer noch) – und sind drin! Ganz offiziell! Bienvenidos a México!

Auch der Rest des Tages wird nicht so souverän verlaufen, wie wir das geplant hatten. Aus irgendeinem unerfindliche Grund verweigert unsere SIM-Karte, die eigentlich auch für Mexiko gültig ist, ihren Dienst. Wir steuern ohne Navigation in die Richtung, in der wir die Geschäftsstraße von Tecate vermuten. Das erste Mal in einem mexikanischen Supermarkt einkaufen. Das erste Mal „con tarjeta“ an der Kasse zahlen – nur um festzustellen, dass wir unsere Kreditkarten noch nicht für Mexiko freigeschaltet haben. Und das ohne Internet auch nicht können. Wieder rettet uns das auf unbeholfene Gringos bestens eingestellte System: Wir dürfen in US-Dollar zahlen, davon haben wir noch Barbestände. Irgendwo auf dem Parkplatz des Supermarkts finden wir dann doch für einen kleinen Augenblick eine Funken Netz – und schalten schnell unsere Kreditkarten frei. Ziehen reichlich Pesos aus dem Geldautomaten und lassen sie in unseren neu erworbenen Geldgürteln verschwinden, die wir uns um den Leib geschnallt und sorgsam unter unseren Pullis verborgen haben. Man weiß ja nie – die Vorurteile über dieses Land blühen so prachtvoll wie die Bougainvilleen an den hübschen Häusern rechts und links der Straße. Bloß nicht mir Kreditkarte zahlen – das Gerät könnte manipuliert sein und viel mehr abbuchen, als eigentlich fällig gewesen wäre. Aber auch: Bloß nicht zu viel Bargeld mit sich herumtragen, falls man ausgeraubt wird. Und für maximale Verunsicherung: Beim Barzahlen genauestens darauf achten, dass korrekt herausgegeben wird. Und das sind nur die auf Geld bezogenen Warnungen. Die Horror-Geschichten von Entführungen, Schießereien zwischen rivalisierenden Drogenbanden, in die man als unschuldiger Tourist geraten könnte, oder fingierten Verkehrsunfällen, die einzig und allein der Abzocke eben jener unschuldigen Touristen dienen, wurden uns ebenfalls schon vielfach mit dramatischer Stimme zugeraunt – vorzugsweise von Leuten, die noch nie in Mexiko waren. Wir wissen nicht, was wir über all das denken sollen – und haben daher beschlossen, uns unser eigenes Bild zu machen. Und uns bis dahin an den Aussagen deren zu orientieren, die schon mal in Mexiko gereist sind – und die so unglaublich viel Gutes über dieses Land erzählen, dass wir beinahe ein bisschen Angst vor zu hohen Erwartungen verspüren.

„Glaubt nicht alles, was CNN euch über Mexiko erzählt.“ Luis, der amerikanisch-mexikanische Besitzer des Campingplatzes, auf dem wir die ersten beiden Nächte in Mexiko verbringen, spricht aus, was wir vermuten. Und unsere ersten Eindrücke vom Norden der Baja California lösen ein seltsam vertrautes Gefühl aus: Alles erinnert mich so unglaublich an Griechenland. Sanfte Hügel, abseits der Landstraße unbefestigte Wege, streunende Hunde, große umzäunte Grundstücke mit Olivenbäumen, Weinstöcken, Hühnern, bellenden Hofhunden. Menschen, die beim Arbeiten plaudern und lachen. Ein uriges Lokal mitten auf dem Land, das genauso gut eine Taverne auf Kreta sein könnte. Holztische, Plastik-Speisekarten, Servietten-Spender, alle reden durcheinander, niemand, der einem, kaum hat man die Gabel nach dem letzten Bisschen abgelegt, die Rechnung unter die Nase schiebt (in den USA der Normalzustand).

Vielleicht sind es diese Griechenland-Assoziationen, die mir seit Tagen das Gefühl geben, gar nicht in einem fremden Land zu sein. Und das Meer. Seit vorgestern stehen wir an einem Strandabschnitt 300 Kilometer südlich der amerikanisch-mexikanischen Grenze am Pazifik. Ganz für uns alleine. Nur ab und zu kommt mal ein Pickup vorbei und jemand schaut aufs Meer. Wie damals in Griechenland. Vorhin winkt uns ein Mann fröhlich aus seinem Pickup zu. Steigt dann aus und sprudelt in Englisch auf uns ein. „Ich bin Marcus, das ist mein Onkel, Alfonso“, sagt er und deutet auf den Mann am Steuer. Dann erzählt er von seiner Familie, die in der Nähe lebt, von Jahren als Bauarbeiter in den USA, davon, wie sehr er es möge, einfach eine gute Zeit mit seinen Freunden zu haben, zu fischen, es sich gutgehen zu lassen. Wie sehr er hofft, Mexiko möge gut zu uns sein und eine tolle Erfahrung. Kramt eine Flasche Tequila aus dem Fahrzeuginnern, frische Limetten, eine Flasche mit Grapefruit-Limonade, und erklärt uns, wie man daraus sowas ähnliches wie eine Margarita mixt. Angelt etwas, das aussieht wie riesige Miesmuscheln, aus einem Plastikbeutel vom Rücksitz und drückt uns drei Fläschchen mit Gewürzsaucen in die Hand, aus denen wir je ein paar Tropfen über die Muscheln träufeln. Noch etwas Limette über die Muscheln – schon haben wir einen Drink und einen Snack in der Hand und fragen uns, womit wir die Gastfreundschaft dieser völlig fremden Menschen hier mitten auf einem Strand verdient haben. Und bleiben nach dem Abschied mit gespannter Neugier darauf zurück, welche Vorstellungen und Klischees, die sich in unseren Köpfen über Mexiko angesammelt haben, sich im Laufe der nächsten Monate als wahr oder unwahr herausstellen werden.

6 Kommentare

  1. Auch Euch ein gutes Neues Jahr nachträglich!

    Ist ja ein ungewöhnlicher Ort für die Fahrgestellnummer .
    Dafür habt ihr in Mexico hoffentlich besseres Wetter als hier.
    Wo soll es es als nächstes hin gehen? Sicher weiter in Mittel-
    Amerika. Ist mir zumindest von den Kreuzfahrersendungen bekannt. Weiterhin gute Fahrt und viel Vergnügen!

    1. Ja, die haben ne echte Ostereier-Suche aus der VIN gemacht! Wir werden erst mal ein paar Monate in Mexiko bleiben und dann langsam weiter Richtung Süden – mal sehen, wie weit es uns noch treibt 🙂 danke für die die guten Wünsche!

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