Silberbunt

Der Motor des Bond röhrt wie ein angeschossener Hirsch, im Schneckentempo kriecht unser Bus die steile, schmale Gasse hinauf. Die Wände der Häuser rechts und links scheinen immer näher zu kommen. „Wenn wir jetzt stehen bleiben, kriegen wir den Bus auf keinen Fall mehr zum Weiterfahren“, schreit Nico über den Lärm von 4.000 Umdrehungen pro Minute hinweg. Er keucht als würde er unseren Bus nur mit der Kraft seiner Arme den Berg hinauf schieben. Ich habe meine Fingernägel in die Handflächen gegraben und schon vor mehreren Minuten aufgehört zu atmen. Die Fahrt durch Guanajuato ist ein Alptraum! Unser Ziel, der einzige Campingplatz in der Stadt, die sich im Verlauf von knapp 500 Jahren über mehrere Berghänge hinweg ausgebreitet hat, liegt irgendwo in diesem Gewirr aus engen Gassen – und zwar ganz oben am Berg. Bevor wir uns in die Steillage begeben haben, sind wir schon drei Mal unter der Stadt hindurch gefahren. Im wahrsten Sinne des Wortes: Guanajuato gehört zu den berühmten Silberstädten Mexikos und war Ende des 18. Jahrhunderts der weltgrößte Lieferant des Edelmetalls. Ein Viertel der Weltproduktion an Silber wurde allein in der Valenciana-Mine gefördert – und die war nur eine von vielen. Entsprechend zahlreich sind die Tunnel und Stollen unter der Stadt – die nach dem Versiegen der Silberströme in der Neuzeit kurzerhand dazu umfunktioniert wurden, den Straßenverkehr aus der Altstadt herauszuhalten und eine Etage tiefer zu verlegen. Bei einer Durchfahrthöhe von 3,20 Meter kommen wir ganz schön ins Schwitzen, als wir bemerken, dass Google Maps uns plötzlich unter die Erde befördert – mag ja sein, dass die aus altem Stein gemauerten Tunnel an ihrem Scheitelpunkt 3,20 Meter messen, aber dem Gewölbe kommen wir mit unserem 2,93 Meter hohen Fahrzeug trotzdem näher als mir lieb ist. Irgendwann sind wir aus dem Tunnelgeflecht raus – nur um uns in den höllisch steilen und gewundenen Gassen wiederzufinden, die zu allem Überfluss an vielen Stellen nicht mal Einbahnstraßen sind – ich bete stumm und mit geschlossenen Augen, dass uns hier niemand entgegen kommt und zum Bremsen zwingt. In dem Fall müssten wir nämlich langsam rückwärts das Gassengewirr wieder hinab rollen – denn vorwärts würde unser Fünfzylinder die knapp drei Tonnen Fahrzeuggewicht nicht mehr befördert bekommen. Ich bewundere Nico mit der geballten Inbrunst einer Flachland-und-Autobahn-Fahrerin dafür, dass er so unerschütterlich weiter die Steigungen hinauf röhrt – ich hätte den Bus längst mitten auf dem Weg stehen lassen und mich mit einem Nervenzusammenbruch daneben gelegt. Endlich taucht rechts das Tor des kleinen Campingplatzes auf. Nico zieht die Handbremse und wir verharren für ein paar Augenblicke still und atemlos auf unseren Sitzen. Uff. Das war krass.

Mit zittrigen Beinen steige ich aus und spähe über das Tor hinweg. Eine kleine Dame mit orangefarbenen Haaren und Kittelschürze kommt aus dem Haus links davon und winkt: „Hay no espacio!“ Es ist kein Platz mehr frei. Ich starre ungläubig. Im Ernst? Wir haben uns hier ohne Rücksicht auf Mensch und Material hinaufgequält – und jetzt ist der Campingplatz voll?? Ich werfe der Dame meinen verzweifeltsten Blick zu, aber sie zuckt nur mit den Schultern. Voll ist voll. Wie ein geprügelter Hund schleiche ich zurück zum Auto. Hinter uns knattert ein PKW die Gasse hinauf, Mit Ach und Krach kriegen wir den Bond noch ein paar Meter weiter geradeaus befördert, bis sich eine kleine Abzweigung auftut, in die wir schlüpfen, um den PKW an uns vorbeifahren zu lassen. Mein Gehirn weigert sich, einen Plan B auszuspucken: Es gibt nur diesen einen Campingplatz und die ganze Stadt ist ein einziges Gassengewirr – hier können wir nirgendwo parken. Außerdem wollen wir doch was sehen von Guanajuato, es nützt also auch nichts, wenn wir weiter außerhalb einen Stellplatz finden, der einen kilometerweiten Fußmarsch zurück in den Ort erforderlich machen würde. „Lass uns ein Hotel suchen und den Bus einfach auf dem Hotelparkplatz abstellen“, schlägt Nico vor. Die Finanzministerin in mir schreit „nein!“. Die nach sechs Stunden Fahrt und dem Höllenritt durch Guanajuato nur noch an Dusche und Bett denkende Reisende seufzt „au ja!“. 20 Minuten später stoße ich die Glasflügeltüren zum Balkon unseres Hotelzimmers auf und atme tief durch. Unter mir und an den gegenüberliegenden Hängen versinkt das Meer aus bunten Häusern im goldenen Licht der untergehenden Sonne. Hundebellen und leise Musik dringen zu mir hinauf, der sanfte Wind trägt aus den Gassen der Altstadt Gelächter empor. Guanajuato und ich, wir fangen einfach noch mal von vorne an.

Ein Bier und eine Dusche später machen Nico und ich uns auf den Weg. Erst eine Weile oberhalb des lichterglitzernden Ortes entlang, dann über zahllose Treppenstufen hinab, die so nah an den Eingangstüren der kleinen Häuser rechts und links vorbeiführen, dass ich die Menschen dahinter miteinander reden hören kann, das Klappern von Geschirr, das Plärren eines Fernsehers. Außer Atem kommen wir unten an – und werden sofort eingesogen vom Strom der Samstagsabend-Menge. Frauen in bunten Kleidern, Männer, die nach Aftershave duften, Lachen und Schwatzen, der Duft von Essen, der aus den zahllosen Restaurants strömt. Wir setzen uns in eines der Lokale, aus denen laute Musik schallt, bestellen Tostadas mit Aguachile und Ceviche, kaltes Bier, und schauen uns das Treiben an den Nachbartischen an. Familien mit Kindern, ein Tisch voll aufgedonnerter Teenies, eine Gruppe lachender junger Frauen, zwei Typen mit Basecaps und schweren silbernen Halsketten, die sich gegenseitig Videoclips auf ihren Handys zeigen. Was für ein Kontrastprogramm zum beschaulichen Baja Cailfornia! So bunt, so laut, so überschäumend fröhlich. Wir grinsen und lassen uns fallen in diesen vergnügten Strudel.

Am nächsten Vormittag steigen wir erneut die vielen Stufen hinab in die Stadt und erkunden Guanajuato bei Tageslicht. Dicht an dicht thronen die kubusförmigen Häuser mit den in leuchtenden Farben gestrichenen Fassaden über der Altstadt. Das historische Zentrum ist geprägt von kolonialer Architektur und dem einen oder anderen klassizistischen Prachtbau. Dazwischen von üppigem Grün beschattete Plazas, munter plätschernde Springbrunnen, die quirlige Markthalle des Mercado Hidalgo, die aussieht wie eine viktorianische Eisenbahnstation. Überall junge Gesichter und Lokale, die mit „precios para estudiantes“, Studentenpreisen, locken: Guanajuato ist nicht nur eine geschichtsträchtige Silberstadt, sondern auch ein bedeutender Universitätsstandort mit mehr als 25.000 Studenten aus Mexiko und aller Welt. Wir lassen uns treiben, trinken Eiskaffee unter einem gewaltigen Lorbeerbaum, dessen Blätterdach so dicht ist, dass kein Sonnenstrahl hindurchdringt und unter den ein Cafébetreiber ein paar wackelige Tische und Stühle gestellt hat. Sitzen auf einer gusseisernen Parkbank an einem der vielen Plätze und schauen einer mexikanischen Familie beim Picknick zu; einem kleinen Mädchen im Sonntagsstaat beim Buddeln im Sand der Blumen-Rabatten, zwei Tauben beim Turteln. Stürzen uns ins Getümmel des Mercado Hidalgo, hören den Mariachi-Gruppen auf dem zentralen Platz Jardin de la Union zu und landen schließlich für ein Kaltgetränk in einem winzigen Innenhof, in dem gerade einmal zwei Stehtische mit Barhockern Platz haben. Guanajuato ist die erste „richtige“ Stadt, die wir in Mexiko besuchen, und wir sind schockverliebt in ihre bunten Farben und die entspannte Atmosphäre. Nur Autofahren, das lassen wir hier lieber bleiben.

5 Kommentare

  1. Alles gut gegangen. Wunderbar …schön das ihr eine Unterkunft gefunden habt. Sollte so sein, ihr habt dadurch schöne Erlebnisse erfahren. Weiterhin eine Gute Zeit

  2. Na da sparen wir uns mal die Stadt mit unserem weißen Riesen.

    Wobei ich jüngst bei Anne&Anna einen Kommentar las, dass die auch schon immer mit den tiefhängenden Kabeln in den kleinen Orten zutun haben.

    Ich seh mich schon einen ganzen Landkreis in den Blackout schicken, weil man einmal nicht aufgepasst hat.

    1. Wir haben im Nachhinein erfahren, dass es eine andere Anfahrt von außen/oben über die Panorámica gegeben hätte, mit der wir das Gassengewirr hätten umgehen können (zum Preis, für ein paar Meter falsch herum in eine Einbahnstraße zu fahren – aber diese Praxis gilt offenbar als akzeptiert). Die Stadt lohnt sich auf jeden Fall, zur Not den Bus außerhalb parken und ein Uber/Didi nehmen. Auf die Idee sind wir leider zu spät gekommen…. 🙂
      Wie hoch ist denn Euer Schlachtschiff?

    2. Hey Krischan, es gibt einen Weg ohne Höhenbeschränkungen 🙂 Wir sind die 110 gefahren bis man rechts auf die Carretera Panoramica abbiegen kann und dann am besten persönlich weiter navigieren und nicht Google Maps vertrauen.Nach Links abbiegen, steil nach unten und nach rechts. 3,5 T und 3,2m haben es geschafft! Gute Fahrt!

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