Kleine Wurzeln

Wir hocken immer noch bei Oaxaca auf dem Campingplatz und verweigern jede Art von Sightseeing. Naja, genauer gesagt sind wir WIEDER in Oaxaca, weil wir mit Linda doch ein kleines bisschen Sightseeing gemacht haben. Schließlich soll sie nicht tausende von Kilometern geflogen sein, um dann zehn Tage lang mit uns hinter Mauern auf einem grünen Rasen zu campieren, der genauso gut in der Eifel oder im Sauerland liegen könnte. Also machen wir einen kleinen Abstecher in die Stadt, schlendern über einen Markt und probieren zwölf verschiedene Mezcal-Sorten (fragt nicht…). Zwei Tage später (fragt nicht!…) machen wir uns dann auf den 260 Kilometer langen Weg an den Pazifik – über ein Gebirge hinweg und mit so vielen Kurven versehen wie der Schwanz einer Perserkatze Haare hat. Siebeneinhalb Stunden reine Fahrzeit, aber zur Entschädigung ein prachtvolles Panorama mit einer Vegetation, die von mediterranen Nadelbäumen zu tropischen Bananenpflanzen und Palmen wechselt, je weiter wir uns dem Ozean nähern. Unten angekommen stürzen uns Hitze und hohe Luftfeuchtigkeit direkt in die nächste Trägheitsphase – aus dem Bus raus, in den Bikini rein. Und dann wieder vier Tage lang nichts machen außer essen, quatschen und ab und zu für eine lauwarme Erfrischung in den Pazifik hüpfen. Nachts laufen drei Ventilatoren im Bus, um die 28 Grad erträglicher erscheinen zu lassen – alles in allem keine guten Voraussetzungen für energieraubende Entdeckungstouren. Den Höhepunkt unserer Aktivitäten entfalten wir einen Tag vor der langen Rückreise nach Oaxaca: Wir machen eine Abstecher in den Küstenort Mazunte. Gepflegtes Hippie-Künstler-Backpacker-tum vor liebreizender Kulisse mit netten Läden und Kneipen, viele ausländische Besucher aber noch kein Tourismus im großen Stil (kein Wunder, bei der mühseligen Anreise). Mitte des Jahres soll jedoch die Mautstraße von Oaxaca ins nicht allzu weit entfernt liegende Puerto Escondido eröffnet werden: Dann dauert die Fahrt ans Meer nur noch zweieinhalb Stunden, die beschaulichen Tage dürften gezählt sein (gut für die Region, Tourismus bringt Pesos. Und wer wäre ich, den Mexikanern das zu missgönnen, nur weil mir persönlich gemütliche kleine Orte besser gefallen?)

Nun ist Linda wieder zuhause in Köln – und wir wieder zuhause im El Rancho RV Park. Denn tatsächlich rückt der Stillstand der letzten Wochen eine andere Sache deutlich in unser Bewusstsein: Wir haben hier inzwischen so etwas wie eine kleine Reise-Familie. Menschen, die wir seit Monaten immer wieder treffen, mit denen wir immer wieder Tage oder Wochen gemeinsam verbringen und die für uns Konstanten in einem ansonsten permanent unsteten und sich wandelnden Reiseleben geworden sind. Menschen, mit denen wir längst weit über das klassische Fragespiel „Wo kommst Du her? Wo gehst Du hin“ und Reisethemen aller Art hinaus sind. Mit denen wir immer wieder Stücke von Alltag teilen, Gedanken austauschen, über Themen diskutieren, die nichts mit dem Reisen zu tun haben. Mit denen wir zusammen spielen, zu Abend essen, einkaufen gehen, am Bus basteln, Buchtipps und Lieblingsserien tauschen. Viel schneller als im Alltag zuhause lassen wir uns unterwegs auf Menschen ein, mit denen die Chemie stimmt. Überspringen den Smalltalk und werden persönlich, weil so fern von zuhause und in einem fremden Land, weit weg von Freunden und Familie der Wunsch nach echten Themen groß ist. Und jetzt gerade, wo wir so wenig Energie für neue Abenteuer verspüren, verbringen wir umso mehr Zeit mit unserer Reise-Familie. Sind froh, dass sie zur selben Zeit am selben Ort sind, hier im Overlander-Ausruh-Paradies El Rancho. Anna und Anne, die für uns inzwischen wie Lieblings-Nachbarn in der Reihenhaussiedlung und Lieblings-Kolleginnen zugleich sind. Und Freundinnen. Ebenso Sissi und Jannis, mit denen wir Mexiko City erlaufen, einen Vulkan erklommen, Ostern auf einem mexikanischen Großfamilien-Campingplatz überstanden und ungezählte Mario Kart-Rennen gefahren sind. Nora und Lohid, deren enorme Reiseerfahrung, unverwüstliche Zuversicht und große Gemütsruhe wie Stimmungsaufheller und Mutmacher auf uns wirken und deren beiden zuckersüßen Söhne uns ohne Umschweife in ihren Kosmos aus Muscheln, Monstertrucks, Steinen und Pixiebüchern eingelassen haben. Auch die Tage des Nichtreisens fühlen sich mit diesen Menschen an wie Geschenke, wie etwas, für das sich das Unterwegssein lohnt, selbst wenn wir gerade still stehen. Nicht alle werden wir von hier aus in die selbe Richtung weiterreisen. Oder im selben Tempo. Und das fühlt sich seltsam an: Wie wird es sein, diese kleinen Wurzeln, die wir in unserem hochmobilen Leben geschlagen haben, bald wieder entwurzeln zu müssen? Werden neue Menschen kommen auf späteren Reiseabschnitten, mit denen erneut eine solche Art von Gemeinschaft entsteht? Mit denen wir die Abenteuer und die Durststrecken teilen können? Mein Verstand sagt „Ja“, mein Herz will davon gerade nichts wissen.

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