Mehr Touri-Tage – und eine Narbe für Mr. Norris

Wir sind dann doch noch drei weitere Nächte auf dem spektakulären Steilfelsen in der Bucht von Gythio geblieben. Haben ein Schiffswrack entdeckt, das bezaubernde Festungsstädtchen Monemvasia fast ganz für uns allein gehabt, uns vor der Polizei versteckt, Wein aus einem Kofferraum gekauft, die wilde Mani erkundet – und irgendwo inmitten des ganzen Entdeckertums Mr. Norris so sehr in die Enge getrieben, dass er jetzt eine fette Narbe trägt. Und all das kam so.

Bevor wir am Donnerstag den Steilfelsen verlassen, um uns einen neuen Stellplatz zu suchen, entdecke ich etwas auf der Karte: Das Wrack der „Dimitrios“, das ich schon auf diversen Fotos anderer Griechenlandreisender bei Instagram gesehen habe, liegt hier ganz in der Nähe! Wir folgen der schmalen Küstenstraße ein paar Biegungen Richtung Gythio, dann sehe ich aus dem Augenwinkel unten am Strand einen rostbraunen, zerborstenen Schemen vor dem stahlgrauen Himmel – die „Dimitrios“. Ich bekomme eine Gänsehaut. Wir folgen dem Wegweiser eine unbefestigte Straße hinab in die Bucht von Valtaki, die sich hinter hohen Dünen versteckt. Ich stapfe los, umrunde die Dünen – und da liegt das Wrack. An einem windstillen Tag dürfte es fast komplett auf dem Sand des Strandes ruhen, heute aber wühlt der Wind das Meer auf und lässt es in gischtigen Wellen gegen das zerrostete Skelett des Küstenmotorschiffs krachen, das hier vor fast 40 Jahren auf Grund gelaufen ist. Am 23. Dezember 1981 riss es sich im Hafen von Gythio von seinen Tauen los, trieb in die Bucht von Valtaki und blieb im Sand stecken. Zuvor hatte die „Dimitrios“ ein ganzes Jahr lang vor Gythio gelegen, da ihr Kapitän so krank wurde, dass er ins Krankenhaus musste – und sein Schiff ohne ihn nicht auslaufen konnte. Was aus dem Kapitän geworden ist, können wir nicht herausfinden – aber sein Schiff liegt seitdem leicht zu Seite geneigt, den einzigen Mast wie einen mahnenden Zeigefinger in den Himmel gereckt, hier am Strand. Sein Leib durch und durch von Rost zerfressen, klaffende Löcher in den Flanken, durch die das Meer in seinem nie endenden Wogen hindurchspült. Sprayer haben das Wrack im Laufe der Jahrzehnte mit Graffiti entehrt, der Name „Dimitrios“ am Bug des Schiffs ist von Salz und Wind so stark verwittert, das man ihn kaum noch lesen kann. Mich berührt dieses geschundene Schiff auf seltsame Art und Weise. Ich finde es geisterhaft, besiegt und stolz zugleich und kann mich nicht sattsehen. Im Sand finde ich einen kleinen, rostigen Metallfetzen, die Schärfe der Kanten rund geschliffen von der Brandung. Ein Stück der „Dimitrios“. Ich hebe es auf und stecke es später in mein Erinnerungsglas.

Irgendwann reißen wir uns los und fahren weiter Richtung Gythio: Oberhalb der hübschen Hafenstadt haben wir uns auf der Karte einen Stellplatz ausgeguckt. Nachdem wir ein paar Fotos vom schmucken Hafen und den charmanten Häusern an der Promenade gemacht haben, folgen wir dem Navi hinauf in den höher gelegenen Teil der Stadt. Die Straßen werden schmaler und steiler, als das Navi uns am Ende einer Wohnstraße rechts um eine Ecke schicken will, geht Nico in die Bremsen. Der Weg sieht eher aus wie eine lange Einfahrt – und ist so steil, dass ich schon beim Hochschauen Schnappatmung kriege. Kommen wir da rauf? Na klar, meint Nico. Ich soll nur kurz zu Fuß prüfen, ob die Straße da oben wirklich weitergeht (nach etwa 100 Metern macht sie eine Biegung, die wir nicht einsehen können, nicht, dass sie vor der Garage eines der Häuser an der Seite endet und unser Navi bloß denkt, es sei eine Durchfahrtsstraße… Alles schon erlebt). Als ich keuchend oben ankomme, gebe ich Nico ein Zeichen: Der Weg geht tatsächlich weiter! Tief unten wackelt Mr. Norris die schmale Straße hoch, wie Emma über die Gleise von Lummerland, bis hier höre ich ihn röcheln und husten. Als er sich nicht mehr bewegt, denke ich zunächst, dass es an der Perspektive liegt und ich seine Bewegung einfach nur nicht sehen kann. Dann sehe ich doch etwas – und werde unruhig: Mr. Norris rollt rückwärts. Obwohl Nico die Bremsen gezogen hat. Rutscht mit blockierten Reifen millimeterweise nach hinten – und schrammt schließlich mit der rechten Heckseite gegen eine Mauer. Ich renne hinab so schnell ich kann. Nico schwitzt und flucht. Versucht verzweifelt, Mr. Norris wenigstens ein paar Zentimeter den Weg hinauf zu bugsieren, damit er ihn von der Hauswand weg bekommt. Die Reifen quietschen, die Kupplung stinkt und überdeckt damit den Geruch nach heißem Gummi. Dann hat er Mr. Norris endlich befreit. Rutscht kontrolliert mit gezogener Bremse und blockierten Reifen die restlichen paar Meter den Weg hinab – und steht wieder unten am Ausgangspunkt. Wir sind alle drei außer Atmen. Begutachten den Schaden: Das Blech hinten ist eingedrückt und etwas abgeschrabbelt aber nicht bis aufs Blech. Mr. Norris trägt die erste echte Narbe dieser Reise mit Würde – ist alles nochmal halbwegs gutgegangen.

Nachdem er kurz durchgeschnauft hat, schaut Nico nochmal aufs Navi – und fängt wieder an zu fluchen. Um an den Ort zu kommen, den wir als Stellplatz in Betracht ziehen, wäre es gar nicht nötig gewesen, diesen engen, umständlichen Weg zu nehmen. Wir hätten einfach der Straße weiter folgen können, die führt bequem und ohne krasse Steigungen ans Ziel. Merke: Dem Navi nicht bedingungslos vertrauen. Wir fahren den einfachen Weg, begutachten den Stellplatz – und finden ihn beide blöd. Richtig blöd. Hier wollen wir nicht bleiben. All der Ärger also auch noch für nix. Wir beschließen, an unseren superschönen Platz von letzter Nacht zurückzufahren und so lange zu bleiben, bis wir eine bessere Idee haben.
Den ganzen nächsten Tag hängen wir dort noch ab, genießen den Ausblick, den zu bewundern ich nicht müde werde, und die Wärme der Sonne, die wir laut Wetterbericht heute zum letzten Mal für eine ganze Weile sehen sollen. Also machen wir Schlechtwetterpläne: Morgen soll es noch nicht ganz so kalt werden und ich möchte unbedingt Monemvasia sehen, eine kleine, mehr als eineinhalbtausend Jahre alte Festungsstadt, die, ähnlich wie Gibraltar, auf einem Felsen vor der Küste liegt und nur über eine einzige schmale Straße zugänglich ist. Und ab Sonntag buchen wir für einen Woche eine Wohnung in Messini, etwa 10 Kilometer östlich von Kalamata, um dort die kalten Tage auszusitzen.

Als wir gestern aufwachen, sieht das Wetter gar nicht so übel aus: Es ist zwar merklich abgekühlt, aber zwischen den Wolken blitzt immer mal wieder die Sonne durch und es ist trocken. Als wir nach einer Stunde Fahrt durch eher reizloses Hinterland vor Monemvasia stehen, pfeift ein ordentlicher Wind. Wir lassen den Bus stehen: Nur ein kleines Tor aus schweren Holzbolen führt in die Stadt, da passt maximal ein Esel mit Reiter durch, Monemvasia ist autofrei. Wir schlüpfen hindurch – und finden uns in einer anderen Welt wieder. Enge Gassen, die Häuser teils liebevoll herausgeputzte Cafés, Restaurants und Kunsthandwerkläden, teils zu Ruinen verfallen. Der Wind fegt durch Torbögen und schmale Treppen hinab, ein wilder Himmel, hinter dem man die Sonne durch fadenscheinig gewordene Wolkenballen hindurch erahnen kann, wälzt sich über das Meer, das wir von einem Platz, einer Stiege, einer Mauerzinne herab immer wieder sehen können. Das Skurrilste aber: Wir sind hier allein. Einzig ein paar Katzen kreuzen unseren Weg. Normalerweise würden sich hier jede Menge Touristen tummeln, durch den Lockdown aber ist niemand da. Wir streifen durch die Gassen und sind uns nicht sicher, ob es ein Segen ist, einen so besonderen Ort in Ruhe alleine erkunden zu können, oder doch eher schade: Vor meinem inneren Auge sehe ich all die Tischchen und Stühle, Blumentöpfe und Windlichter, die hier sonst vermutlich für Gäste bereit stehen. Ich rieche beinahe den Duft von gebratenem Gemüse, Olivenöl, Wein und frischem Brot – es muss seinen eigenen Reiz haben, diesen Ort an einem ganz normalen Sommertag zu erkunden, wenn die Welt nicht gerade in einer Schockstarre verharrt…

Vor „Byron‘s Wine Kamara“ bleiben wir stehen: Der Besitzer hat mit Kreide eine Telefonnummer an die Tür gekritzelt, „Wine Tasting to take away, send WhatsApp“. Ich kann nicht widerstehen und schicke eine Nachricht – vielleicht können wir heute Abend am Bus eine Weinverkostung machen, für die uns jener Byron die Zutaten zum Mitnehmen einpackt? Prompt kommt eine Nachricht zurück: Um 18 Uhr könnten wir Weinproben und dazugehörige Snacks abholen. Schade – da sind wir schon lange weg. Noch eine Nachricht: Wenn Ihr mögt, kann ich Euch einen guten lokalen Wein vorbeibringen. Wäre in 15 Minuten draußen vor dem Stadttor. Klar mögen wir! Wir postieren uns vor dem Tor und ich lese uns zur Unterhaltung beim Warten ein bisschen was über die Geschichte Monemvasias aus dem Wikipedia-Artikel vor (wie immer sind wir gnadenlos schlecht vorbereitet auf den Ort, den wir besuchen….). Gerade, als ich an der Stelle bin, wo die Griechen das türkisch besetzte Monemvasia belagern (und es als einzige in eineinhalbtausend Jahren Belagerungsgeschichte tatsächlich einnehmen werden), murmelt Nico „Polizei“ und zieht mich am Ärmel zurück hinter die dicken Stadtmauern. Wir hasten eine Stiege hinauf und linsen hinter einer Zinne von oben auf den Platz vor dem Tor: Genau davor postiert sich ein weißes Polizeiauto. Wir schauen uns an. Was wollen die da? Wir sind so ziemlich die einzigen Menschen hier, prüfen die, ob sich Leute ohne guten Grund in der Stadt aufhalten? Wir haben zwar ein Permit ausgefüllt – aber das ist natürlich nur hauchdünn und würde einer ernsthaften Inquisition wohl kaum standhalten. Wir kommen uns zwar albern vor – wollen aber auch nicht fahrlässig ein Bußgeld von 1.000 Euro riskieren. Hocken hinter der Mauer und warten ab, wer sich zuerst bewegt. Dann kommt die Nachricht des Weinmanns: Stehe draußen vor dem Tor. Ich schreibe zurück: Wir sehen Polizei, müssen wir uns sorgen machen? Seine Antwort im Bruchteil einer Sekunde und unmissverständlich: No. Er ist der Local – wir glauben ihm. Kriechen aus unserem Versteck hinter der Mauer, gehen lässig durch das Tor, vorbei an einem telefonierenden Polizisten, und winken dem Weinmann zu, als seien wir alte Bekannte. Hoffen, dass er uns im Zweifelsfall deckt. Und es passiert – nichts. Der Weinmann ist ein zweisprachiger Grieche mit britischer Mutter und erzählt uns, dass er eigentlich in Südspanien in der Gastronomie arbeitet. Im Sommer kam er, um seinen Eltern im Weingeschäft zu helfen, dann wurde der Lockdown verhängt und er blieb. Präsentiert uns am geöffneten Kofferraum seines Kombis einen roten und einen weißen Wein von den Hängen der Gegend – wir können uns nicht entscheiden und nehmen beide. Als wir uns verabschieden, gehen wir nicht zurück in die Gassen der Festung, obwohl wir uns die Oberstadt noch gar nicht angesehen haben. Wir kneifen feige, falls die Polizisten es sich doch noch anders überlegen und uns ausquetschen. Tragen stattdessen unseren Wein zurück zu Mr. Norris und fahren in den Sonnenuntergang – heim auf unseren Steilfelsen.

Jetzt, 24 Stunden später, sitze ich an einem schweren Holztisch in der Wohnung in Messini. Nico liegt in der Badewanne, im Kamin stapeln sich die Holzscheite, die wir nachher noch entzünden wollen. Wir haben mal wieder ein glückliches Händchen bei der Wahl der Unterkunft gehabt. Und ebenso bei der Wahl der Strecke hierher: Statt den direkten Weg von Gythio zu nehmen und nach zweieinhalb Stunden vor der Tür des Appartements zu stehen, haben wir uns für eine doppelt so lange Strecke entschieden: Einmal komplett über die Mani. Die Mani, das ist der Mittelfinger Griechenlands. Eine raue und einsame Halbinsel mit blutiger Vergangenheit – rebellische Bergvölker mit einem Hang zur Blutfede haben es uns irgendwie angetan. Schon auf Korsika und auf Sardinien haben wir den störrischen Geist der Menschen bewundert, von denen die Geschichten dieser Landstriche erzählen. Das Wetter passt perfekt zur Szenerie: Es schüttet wie aus Eimern, als wir losfahren, Bäume und Häuser verschwinden hinter Vorhängen aus Wasser. Sobald wir die Küstenstraße erreichen, schwächt der Regen ab, es nieselt nur noch ab und zu, der Wind zerreißt die Wolkendecke immer wieder und gibt der Sonne die Chance, ihre Strahlen auf nass glänzende Felsen und Klippen, trutzige, quaderförmige Häuser mit Fenstern so groß wie Schießscharten und grün bewachsene Hänge zu werfen. Es ist unglaublich wild und unglaublich grün hier. Am Wegesrand mächtige Platanen, schlanke, hohe Zypressen, vom Wind verkrüppelte Olivenbäume; gelb schimmernde Sträucher und ganze Büsche von Wolfsmilch, Gänseblümchen, leuchtend roter Mohn und winzige lila- und rosafarbene Strand-Levkojen im Gras. Immer wieder Orte mit Häusern wie Bollwerken, mal klein, mal groß wie schottische Castles. Wir fahren zwischen Himmel und Meer und Fels und diesem rauen Garten Eden und Nico muss alle fünf Minuten anhalten, damit ich Fotos machen kann. Fast vier Stunden bestaunen wir die Mani, dann, kurz vor unserem Ziel, erlaubt sich unser Navi noch mal einen Spaß mit uns und schickt uns zwischen Olivenhainen hindurch über Wege, auf denen wir normalerweise nur wandern würden, anstatt uns einfach die asphaltierte Straße an der Bucht von Kalamata entlang auf direktem Weg ans Ziel zu führen. Uns kann nichts mehr erschüttern, ungerührt rumpeln wir über ausgewaschenen Lehm und durch Pfützen so groß wie ein kleines Land. Und jetzt ist erstmal für eine Woche Pause mit Navigieren. Stattdessen jede Menge Textaufträge für mich und jede Menge Programmierspaß und Drohnenflug-Tutorials für Nico – und dann müssen wir uns mal langsam etwas konkreter überlegen, wie es mit unserer Reise längerfristig weitergehen soll.

2 Kommentare

  1. Guten Morgen liebe Brit und Nico, das war ja wieder das große Abenteuer Pur mit wunderschönen Fotos.
    Jetzt genießt mal Eure Unterkunft und lasst Mr. NORIS sich erholen.
    Die Erfahrung durch Griechenland mit Navi war auch bei uns ein Abenteuer. Da ist man froh, dass für eine Woche nicht mehr zu brauchen ☕
    Schöner, spannender BerichtLG vom Niederrhein

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