Christos Anestei!

Als wir die letzten Stufen hinauf zur Evangelista-Kirche über Nafplio steigen, verschlägt es mir die Sprache. Dieser Blick! Wir sind nicht zum ersten Mal hier oben, als gute Touristen haben wir diese hübsche Kirche mit den zwei Türmen bereits bei unserem Besuch in Nafplio im Januar angeschaut, und auch unsere Gänge zum Einkaufen in den Ort führen uns ab und zu hier oben vorbei. Aber noch nie habe ich die Kirche in dieser Lichterpracht gesehen und noch nie den Anblick von hier oben über die gesamte Stadt und die Bucht dahinter, wenn sie im schwindenden Licht des Tages bläulich schimmern. An den Ufern flammt nach und nach die Straßenbeleuchtung auf, auch aus den Fenstern der Häuser von Nafplio beginnt es zu glimmen. Schleierwolken verliehen dem Himmelsblau eine zarte Struktur – und all das ist bloß die Kulisse für das noch viel Prachtvollere, was auf dem Platz vor der Kirche stattfindet: die Karfreitagsliturgie. Theo führt uns durch die lockere Menge der Menschen, die mit brennenden Kerzen in der Hand auf dem gesamten Vorplatz, den Balkonen der Nebengebäude der Kirche und den Stufen davor stehen. Ich komme aus dem Schauen nicht heraus, so viele Eindrücke, die passen gar nicht alle gleichzeitig durch meine Augen, meine Ohren, meine Nase. Im Zentrum des Geschehens: ein über und über mit Blumen und Kerzen geschmücktes Etwas, das aussieht wie eine Sänfte oder ein tragbarer Altar. Der Epitaphios, erklärt Theo, der den Sarg Christi symbolisiert. Davor stehen mit dem Rücken zu uns Männer in einheitlich blaugrauen Gewändern, einer hält einen hohen Stab mit einem goldenen Kreuz, ein anderer einen mit einer goldenen Scheibe. Rechts neben den Männern zwei kleine Jungs mit Kerzenleuchtern, vielleicht sieben oder acht Jahre alt, die unruhig von einem Fuß auf den anderen treten. Um 18 Uhr hat die Liturgie begonnen, jetzt ist es fast halb neun, die kleinen Kerlchen müssen also schon verdammt lange da stehen. Aus den Lautsprechern tönt der Singsang eines Geistlichen, den ich unter dem Portal der Kirche an einem Mikrofonständer stehen sehe. Abwechselnd hört man auch einen Chor, der singt wohl in der Kirche, meint Theo. Und zieht uns schon in Richtung Eingang, hinein in den vom Boden bis zur Decke mit Heiligenbildern bemalten Innenraum. Navigiert uns an den vereinzelt hier sitzenden Gläubigen vorbei hinauf auf den Orgelboden (oder das, was bei uns zuhause in der Kirche ein Orgelboden wäre) – es hat schon seine Vorteile, mit Theo unterwegs zu sein! Im Leben hätte ich mich nicht getraut, hier während einer der heiligsten Zeremonien der Orthodoxen Kirche einfach so hinter den Kulissen herumzuschleichen! Aber mein Journalistenherz lacht: Ich liebe es, einen Blick ins Innere der Dinge werfen zu dürfen!

Als wir genug geschaut haben, schleichen wir wieder hinaus und ich werde mutig: Mache mich allein auf die Socken. Hoch auf einen der Balkone, um von dort, nahe an einem der beiden Glockentürme, einen Blick von oben auf das Geschehen zu werfen. Hinüber zu einer Kapelle seitlich der Kirche, in der ein kleines Mädchen in einem rosa Kleidchen auf noch unsicheren Beinen seine Mutter an der Hand zu einer großen Schale mit brennenden Opferkerzen unter einem riesigen Kristalleuchter zieht. Viel spannender als das Gesinge da draußen, wo sie vermutlich nur Beine bis zur Höhe der Kniekehlen sehen kann, klein wie sie ist. Dann pirsche ich vor bis zum Epitaphios, um mir das Spektakel aus der Nähe anzuschauen. Inzwischen steht ein weiterer Geistlicher davor und besingt die Blumen- und Kerzenpracht. Gläubige treten vor und deuten einen Kuss auf die in der Mitte liegenden Blütenblätter an, einige Mutige beugen sich trotz Corona tief darüber und drücken ihre maskenbewehrten Lippen auf die Blüten. Eine Frau zieht gar die Maske runter – sie hat offenbar großes Gottvertrauen. Ich kehre zu Theo und Nico zurück. Genieße weiter die entspannte Atmosphäre des beständigen Kommens und Gehens der Menschen, ihre leisen Gespräche miteinander, das Herumwuseln der vielen Kinder – undenkbar bei uns zuhause, wo in der Kirche Stillsitzen und Schweigen angesagt sind. Trotzdem wirkt das Verhalten hier nicht respektlos oder unaufmerksam. Eher wie eine gesellig-gemeinschaftliche Anteilnahme. Inzwischen ist es dunkel. Ein Blasorchester spielt aerosolarm per Video einen getragenen Marsch, als vier Männer sich den Epitaphios auf die Schultern heben und ihn vor der prachtvollen Kulisse und begleitet von lauter kleinen Blumenmädchen, die ihnen Blüten vor die Füße streuen, einmal symbolisch um den Platz vor der Kirche herum tragen. „Gehen wir?“, fragt Theo. Ist die Liturgie schon zu Ende? Nein, aber das war der Höhepunkt. Berauscht marschieren wir den kurzen Fußweg nach Hause.

Am nächsten Abend dann die nächste Runde orthodoxer Zeremonien: das Highlight des Kirchenjahres, die Osternacht. Diesmal fahren wir dafür in die Hügel hinter Theos Haus zum Kloster Agia Moni, das dort seit dem 11. Jahrhundert zwischen Felsen und Olivenhainen steht. Es ist schon dunkel, als wir dort ankommen, die Nacht bereits hereingebrochen, und anders als gestern leuchtet auch im Innenhof der Kirche kein Licht (außer ein wenig Notbeleuchtung, damit sich die Gläubigen nicht die Beine brechen auf dem unebenen Boden). Theos jüngere Tochter Chrissa drückt uns Kerzen aus Honigwachs in die Hand – für später. Wieder hören wir Gesänge aus Lautsprechern, wieder flitzen festlich herausgeputzte Kinder im Dunkeln zwischen den Erwachsenen hin und her, die sich zum Teil leise unterhalten, zum Teil mitsingen. Der Gesang von drinnen aus der kleinen Klosterkirche steuert auf einen Höhepunkt zu, gleich passiert was! Und richtig: Heraus tritt ein Mönch mit einer brennenden Kerze – das Osterlicht! Ein anderer Mönch reißt an einer Leine, die außen am Glockenturm herabhängt, und das etwas scheppernde Läuten der Klosterglocken erfüllt die Nacht, während das Osterlicht von Kerze zu Kerze weitergegeben wird. „Christos Anestei!“ hören wir bei jeder neu entzündeten Kerze: Christus ist auferstanden! Innerhalb von Minuten erleuchten hundert kleine Flammen den Innenhof. Ein Geistlicher in einem prachtvollen roten Gewand tritt aus der Kirche und liest singend aus einem dicken goldenen Buch – der Bischof, erklärt Theo. Von Inszenierung versteht die orthodoxe Kirche auf jeden Fall mindestens genauso viel wie die katholische, mit der ich aufgewachsen bin! „Gehen wir?“, fragt Theo. Meinem Opa hätte das nicht gefallen, aber ich bin ein großer Fan dieser Open House-Policy! Chrissa und ich schützen die Flammen unserer Kerzen mit den Händen auf dem Weg zurück zum Auto und dann auch während der Fahrt, unser Job ist es, das Licht unversehrt nach Hause zu transportieren, um damit das Heim zu segnen. Vor der Haustür angekommen nimmt Theo Chrissas Kerze und führt die Flamme unter dem Türsturz aus Beton kreuzförmig auf und ab, der Ruß frischt das dunkle Kreuz auf, das dort in zahllosen Osternächten gemalt wurde. Das wollen wir auch für Mr. Norris! Ein bisschen Segen kann ja nie schaden. Da wir keine Stelle haben, die wir mit Ruß beschmieren können, tropfe ich kurzentschlossen ein Kreuz aus gelbem Bienenwachs auf seine Stoßstange: Christos Anestei!

Und dann essen wir. Und reden und lachen und essen und lachen noch ein bisschen mehr – zwei Tage lang. Rot gefärbte Ostereier, die man hier vor dem Essen mit dem Ei seines rechten und seines linken Sitznachbarn an der Ober- bzw Unterseite zusammenschlägt – „Christos Anestei!“ – der, dessen Ei dabei heil bleibt, hat im kommenden Jahr besonders viel Glück. Ein großer Spaß! Ostersonntag dreht sich ab morgens eine Ziege aus Theos Stall an einem Spieß über dem Feuer, die letzte Woche unter Theos kundigen Händen ihr Leben ließ. Theo und sein älterer Sohn Chris haben sie am Vortag auf den Spieß gesteckt und vorbereitet. Da wir auf Fleisch nur aus ökologischen Gründen verzichten und uns bei einer Ziege aus Theos Garten keine Sorgen ums Weltklima machen, genießen wir das zarte Fleisch. Bei dem traditionellen Kokoretsi, den Innereien der Ziege, die auf einen Spieß gesteckt und mit ihrem Darm umwickelt geröstet werden, lehnt Nico dankend ab. Ich nicht, mir schmeckt auch sowas seit jeher. Wir steuern einen selbst gebackenen Osterzopf und einen Spargelsalat zum Festessen bei, außerdem zwei Flaschen deutschen Sekt – wir sollten mitbringen, was in Deutschland typisch für ein Osteressen wäre, und in meiner Familie wären solch Feiern ohne ein Glas Sekt undenkbar.
Tzatziki, Feta, Salate, frisch gebackenes Brot – die Tafel biegt sich. Theo und Chris nehmen die Ziege vom Spieß, schon vorher durften wir unter großem Gekicher und viel „hmmmmm“ ein bisschen was von ihrem heißen Fleisch abzupfen und kosten. „Das haben wir als Kinder früher die ganze Zeit heimlich gemacht, während die Onkel im Schweiße ihres Angesichts den Spieß drehen mussten“, erzählt Theo. Er hat einen kleinen Motor für seinen Grill gebaut, sodass die Ziege auch ohne viel Muskelkraft knusprig wird.
Da sitzen wir also an der langen Tafel, Theo und Eleni, ihre beiden Söhne und ihre beiden Töchter, der Freund einer der Töchter und Elenis Eltern. Drei Generationen und wir, die beiden Deutschen, die sie „adoptiert“ haben, wie Eirini, die ältere Tochter, lachend verkündet. „Findet euch damit ab, ihr habt jetzt eine griechische Familie“. Ich habe einen Kloß im Hals, wie können wir diese unglaubliche Offenheit und Freundlichkeit je vergelten? Theo gibt mir unwissentlich die Antwort, als wir uns an einem der Abende nach dem Essen verabschieden: „Es tut mir zwar leid für Euch, dass Ihr nicht nach Kreta konntet, aber für uns ist das ein Geschenk, ich bin so froh, dass Ihr bei uns seid.“ Ich habe mir einfach die falsche Frage gestellt, man rechnet Gastfreundschaft nicht auf.

5 Kommentare

  1. Richtig gut!
    Und wir haben uns in „eurer“ Bucht drei Tage versteckt.

    Aber so ohne Kontakt und Erklärung wären wir völlig planlos und Fehl am Platz bei solchen Zeremonien gewesen.

      1. Liebe Brit, lieber Nico,
        was für ein einzigartiges und besonderes Erlebnis durftet Ihr bei und mit Theo erleben! Das ist wirklich wundervoll und die ganze Wärme und Liebe kommt beim Lesen und Anschauen der Bilder herüber. Du hast es auch wieder toll „transportiert“! Danke!
        Ich wäre auch gerne dabei gewesen…
        Liebe Grüße,
        Astrid

  2. Meine Lieben, wunderschön berichtet und so kommt es mir beim lesen vor, als wäre ich/ wir dabei.
    Auch unser Osterfest in Korinth 2019 war genau so faszinierend.
    Es ist so lieb, dass so liebe Menschen, euch beide adoptiert haben.
    Wir alten Weltenbummler wissen was das für ein schönes Gefühl ist.
    GLÜCKWUNSCH
    LG Monika und Werner

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