Grüner Korridor

Als wir am Militärkrankenhaus von Sofia ankommen, gießt ist es noch immer in Strömen. Der Regen begleitet uns schon, seit wir vor einer halben Stunde aus dem Vitosha Park am Rande der Stadt, in dem wir unsere erste Nacht in Bulgarien verbracht haben, losgefahren sind. Das Wasser fließt an hohen Wänden aus sattgrünen Bäumen herab und füllt die zahllosen Schlaglöcher der Straßen bis zum Rand. Als wir uns in die Schlange vor dem Impfzentrum einreihen, lässt der Regen etwas nach. Etwa ein Dutzend Männer und Frauen jeden Alters stehen vor uns in der lockeren Schlange. Sind, wie wir, eine halbe Stunde vor Öffnung der Tore gekommen. Auf diesen Tag haben wir sehr lange hingefiebert: Wir hoffen, hier und heute gegen Corona geimpft zu werden. Der Hauptgrund, weswegen wir gestern nach Bulgarien eingereist sind. Klar, auch, weil ich aus zwei früheren Kurzbesuchen weiß, dass das Land definitiv eine Reise wert ist. Aber doch in der Hauptsache, weil wir von anderen Reisenden gehört und dann in unseren Internetrecherchen bestätigt gefunden haben, dass man sich in Bulgarien auch als Nicht-Bürger des Landes gegen Covid 19 impfen lassen darf. Den „Grünen Korridor“ nennen die Gesundheitsbehörden die zahlreichen, über das ganze Land verteilten Impfzentren, die in separaten Bereichen in Krankenhäusern, Privatkliniken, Arztpraxen und anderen medizinischen Institutionen eingerichtet wurden, und an denen man sich einfach ohne Termin in die Schlange stellen kann, um sich impfen zu lassen.

Um kurz vor neun stößt eine grauhaarige Dame die Flügeltüren des Gebäudes auf und verkündet etwas auf Bulgarisch. Das junge Paar vor uns übersetzt: Heute nur Impfen, wer für eine Impfbescheinigung ansteht, muss entweder Montag wiederkommen oder sie online beantragen. Langsam trottet die Schlange in den Klinikflur, hier drinnen herrscht architektonisch betrachtet der selbe sozialistische Charme wie draußen. Erinnerungen an meine Uni-Jahre Anfang der 90er in Leipzig werden wach. Still und diszipliniert lassen sich die Impfwilligen an den dafür vorgesehen langen Tischen rechts und links des Ganges nieder und füllen das Formular aus, das dort in Stapeln bereit liegt. Netterweise hängt ein auf Englisch ausgefülltes Musterformular an der Wand über einem der Tische. Nico und ich schreiben unsere Daten in die dafür vorgesehenen Felder. Dann stellen wir uns so still wie alle anderen in die Schlange vor Raum 4, ein paar Schritte weiter. Die ersten Menschen kommen uns mit einem kleinen Pflaster am rechten oder linken Oberarm aus Raum 4 entgegen. Ich werde kribbelig. Nur noch ein paar Momente, dann ist der Grundstein für ein freieres Reisen gelegt. Auf der Webseite der Klinik stand, dass sie Biontech, AstraZeneca, Moderna und Johnson & Johnson verimpfen. Letzterer wäre ein Traum  – nur eine Dosis und wir wären durch. Halten wir aber eher für unrealistisch angesichts der Lieferengpässe, von denen wir in den Medien gelesen haben. Wir hoffen auf Biontech, bei diesem Vakzin geben sie in Bulgarien die zweite Dosis bereits nach drei Wochen und wir könnten weiterreisen. „Was machen wir, wenn sie nur AstraZeneca haben“, fragt Nico. Wir überlegen kurz, dann entscheiden wir, dass wir auch diesen Impfstoff nehmen würden. Die zweite Dosis würde zwar erst zehn bis zwölf Wochen später verimpft, die würden wir dann aber schon irgendwie in Deutschland bekommen. Noch eine Person vor uns. Sie schlüpft durch die Tür, und der Mann im schwarzen Schweinsteiger-Nationaltrikot, der vor der Tür zu Raum 4 die Formulare der Impfwilligen prüft, winkt uns näher. Schaut auf unsere Ausweise. Und stutzt. Ob wir einen bulgarischen Ausweis haben. Nein. Ob wir hier wohnen. Nein. Hm. Er schaut besorgt. Verschwindet in Raum 4 und kommt nach einem Moment zurück. Die Impfung sei nur für Menschen mit Aufenthaltstitel in Bulgarien. Haben wir nicht irgendein Dokument, das eine Verbindung zu Bulgarien zeigt? Vielleicht einen Studentenausweis? Wir schütteln den Kopf, in meinem beginnt der freie Fall. Was, wenn wir ganz umsonst gekommen sind? „Wir haben gehört, dass sich hier auch Nicht-Bulgaren impfen lassen dürfen. Freunde von uns hatten letzte Woche ihre zweite Impfung in Burgas. Wir sind extra deswegen nach Bulgarien gekommen.“ Er schüttelt traurig den Kopf. „We got new orders last week“. Neue Anweisungen seit letzter Woche?? So viel Pech können wir gar nicht haben!! Der Mann schaut in mein geschocktes Gesicht und murmelt „I will ask the doctor.“ Kommt mit einer resolut aussehenden jungen Ärztin im Schlepp wieder aus Raum 4, deren Miene keinen Raum für Interpretation lässt. „Wir dürfen nicht mehr. Sorry.“ Der Mann im Schweinsteiger-Trikot schaut uns mitfühlend an. „I am really sorry.“ Er hat alles gegeben, mehr ist nicht drin.

Mit hängenden Köpfen und taubem Gefühl schleichen wir zurück zur Ausgangstür. Die grauhaarige Dame, die uns eingelassen hat, zeigt auf ihren Oberarm und fragt „okay?“ Wir schütteln den Kopf. Sie macht ein bekümmertes Gesicht: „Sorry“. Draußen hat es wieder angefangen zu regnen. „Was machen wir denn jetzt?“, fragt Nico. Wir können einfach nicht fassen, dass wir so kurz vor dem Ziel gescheitert sind, wir standen doch praktisch schon mit einem Bein im Impfraum! Wir ziehen die Tür von Mr. Norris zu, den wir am Straßenrand vor dem Militärkrankenhaus geparkt hatten. Sofort beschlagen die Scheiben von all der Nässe. „Wir versuchen es einfach noch mal bei einer Privatklinik“, sage ich nach kurzem Überlegen. Es gibt eine lange Liste von Impfzentren in Sofia, vielleicht sind die privaten Institutionen ja flexibler als die staatlichen, vielleicht kann man da für den Impfstoff bezahlen oder es gibt sonst eine unbürokratische Möglichkeit. Wir haben seit zehn Minuten ohnehin nichts besseres mehr zu tun in Bulgarien, warum also nicht an einem Samstagmorgen ein paar grüne Korridore abklappern? Wir wählen zwei Adressen aus der Liste aus, die wir auch bei Google verorten können. Nico steuert zuerst die an, die früher schließt. Einmal quer durch Sofia auf mehrspurigen Kopfsteinpflasterstraßen fahren wir durch die tropfnasse Stadt. Ziehen Bugwellen neben und hinter uns her, da sich das Regenwasser in jeder Unebenheit dieser ungeheuer unebenen Stadt sammelt. Steigen an der Zieladresse aus, einer privaten Klinik für Reproduktionsmedizin an einer Wohnstraße nahe der Universität. Die Dame am Empfang hört sich unser Anliegen an. „We only have AstraZeneca“, sagt sie. Nehmen wir! „Now?“ Wir nicken heftig. Sie greift zum Telefon. „Okay, but you have to wait a moment.“ Wir strahlen, wir warten auch drei Stunden, kein Problem, aber wir werden geimpft!! Nico lässt sich im Vorraum nieder, ich schlüpfe kurz auf die Toilette. Als ich zurückkomme, ist Nico weg. Die Empfangsdame zeigt nach draußen und ums Gebäude herum, mein Mann sei schon im Impfraum. Ich gehe um die Ecke und Nico ruft mir durch die Glastür entgegen: „Gute Nachrichten, die haben Janssen!“ Im Ernst? Vor eine halben Stunde standen wir noch ohne Aussicht auf Impfung da, und nun der Best Case, auf den wir nie zu hoffen gewagt hätten? Mein Magen macht einen Sprung, ein bisschen viel emotionale Achterbahn für vor dem Frühstück…

Und dann geht alles ganz schnell. Nico bekommt seine Dosis zuerst. Ich denke „So ein kleiner Augenblick, und doch ändert er alles“, als die junge Frau mir den Impfstoff spritzt. Sorgsam werden unsere Daten ins System eingepflegt, Referenz ist unsere Reisepassnummer. Wir bekommen den digitalen Impfausweis direkt ausgedruckt und noch einen Vermerk ins gelbe Impfbuch. „Was sind wir Ihnen schuldig?“ Der Mann, der die Daten eingegeben hat, guckt verwundert. „Nichts. Die Impfung ist für alle kostenfrei.“ Wie betäubt treten wir aus dem Impfraum, draußen strahlt die Sonne auf die regennasse Straße, ich komme nicht ganz hinterher mit den Ereignissen der vergangenen Stunde. Wir sind geimpft! Nur eine Dosis nötig! Unsere Reisepläne ab sofort wieder komplett in unserer Hand. In zwei Wochen keine Tests mehr für Grenzübertritte. Kein ungutes Gefühl mehr, wenn einem Menschen zu nahe kommen. Zuhause unsere inzwischen fast alle geimpften Freunde und Familie in den Arm nehmen, ohne Angst. Uns ist bewusst, dass man das Thema Corona-Impfung durchaus kritisch sehen kann und muss. Aber auch nach Abwägen aller Risiken sind wir der Ansicht, dass die Impfung sowohl für uns persönlich als auch für uns alle als Gesellschaft das kleinere Risiko gegenüber einer Covid19-Erkrankung bedeutet. Dass wir uns und andere mit der Impfung vor Schlimmerem schützen. Wir sind so erleichtert, dass uns ganz schwummerig ist.

Schwummerig ist dann allerdings für mich in den folgenden fünf Tage noch der angenehmste Zustand: Janssen knockt mich ordentlich aus. Fieber, Gliederschmerzen und leichte Übelkeit in der Nacht danach, dann ein sehr erschöpfter und appetitloser Sonntag im Bett. In weiser Voraussicht haben wir uns für zwei Nächte ein Apartement in Sofia gemietet, krank im Bus, das machen wir nicht, das haben wir bereits vor langer Zeit entschieden. Nico fühlt sich ebenfalls ziemlich schlapp, morgen ist alles wieder gut, denken wir Sonntag beim Einschlafen. Morgen ist mein Geburtstag, da will ich Sekt trinken! Im Schneckentempo schleppen wir Montag unser Zeug zurück in den Bus. In zwei Paracetamol-beflügelten wachen Stunden hatte ich am Sonntag für die kommenden zweieinhalb Wochen eine grobe Rundtour durch Bulgarien ausgeheckt, die wir heute mit der Fahrt nach Vratsa etwa zwei Stunden nördlich von Sofia in einem Naturpark mit spektakulären Felsformationen beginnen wollen. Mir ist speiübel, in einer Apotheke bekomme ich ein Medikament dagegen. Das Zeug wirkt nicht, als wir nach zwei Stunden in Vratsa ankommen, entscheidet Nico, dass wir uns ein Hotelzimmer nehmen. Die Fahrt durch die saftig grüne und verwunschene Kulisse, immer an einem munteren Fluss entlang, durch Landschaften, die mich mal an die Tara-Schlucht in Montenegro erinnern, mal an den Schwarzwald, nehme ich nur durch einen Schleier wahr. Im Hotel falle ich sofort ins Bett – scheiß auf Geburtstag. Auch am nächsten Tag stehe ich nicht auf, wir verlängern das Zimmer, Nico betüdelt mich nach Kräften, aber ich fühle mich einfach nicht besser. Komme irgenwann zu dem Schluss, dass das nicht mehr die Nachwirkungen der Impfung sein können, sondern eher ein Magen-Darm-Infekt, den ich mir Gott weiß woher geholt habe. Mittwoch müssen wir weiter, das Hotel ist ausgebucht. Fahren bei schwülwarmen 32 Grad Richtung Balkangebirge und dort auf einer schmalen Straße immer entlang des Gebirgsmassivs. Eindrucksvoll. Und auch hier alles unfassbar grün (die Überschrift habe ich nicht nur wegen der Imfpung gewählt!). Halten am nächsten Hotel. Mehr schlafen. Und eine kleine Mahlzeit – endlich bringe ich ein paar Bissen runter. Am nächsten Morgen weiter entlang des Nationalparks Zentralbalkan. Langsam werde ich wieder munter und bestaune voll Entzücken die vorbeirollende Landschaft: Es ist so unglaublich schön da draußen vor dem Busfenster!

Abends kehren wir in dem bezauberndsten kleinen Hotel ein, das man sich vorstellen kann. Schauen vom Balkon aus auf den Botev, den höchsten Berg des Balkangebirges, den wir eigentlich besteigen wollten, aber an solche Kraftakte ist gerade nicht zu denken. Stattdessen ein kleiner Spaziergang in der Abenddämmerung  – so grün hier alles!

Seit heute sind wir wieder im Bus. Nico hat eine Ameisenpopulation ausgerottet, die wir offenbar auf der letzten Station in Griechenland eingeschleppt haben und die sich während unserer Abwesenheit im Fußaum des Fahrersitzes häuslich niedergelassen hat. Ich habe den Kühlschrank ausgemistet, der warm geworden ist, da unser Ladebooster unbemerkt den Geist aufgegeben hat und uns in der Folge die Bordbatterie komplett entladen ist, ohne während der Fahrten nachzuladen. Der ganz normale Camperalltag hat uns wieder. Mein Geburtstagssekt steht immer noch im Kühlschrank – aber jetzt wird Bulgarien entdeckt!

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