Starlink

Wir kacheln mit 90 km/h über die MEX 1, die endlos lange Landstraße, die sich von der US-amerikanischen Grenze bei Tijuana über den Verlauf von 1.700 Kilometer bis an den Südzipfel von Baja California schlängelt. 500 Kilometer davon müssen wir heute bis 18.00 Uhr schaffen – und als wir so durch die karge Landschaft in die für uns ungewohnt frühe Morgensonne hinein fahren, fällt mir unsere Ochsentour vom griechischen Festland bis ans Südende der Peleponnes wieder ein. Damals sind wir in ähnlichem Eiltempo quer durch Hellas gerast, um es vor dem 41 Stunden später beginnenden Lock-Down so weit wie möglich in den Süden zu schaffen. Heute ist unser Grund für die Eile und die lange Strecke weitaus profaner – fühlt sich aber peinlicherweise ähnlich existenziell an: Wir brauchen Internet. Digitaler Detox oder die romantische Vorstellung von stillen Tagen am Busen der Natur fernab des worldwide Webs finden vermutlich nur Leute toll, die keine Freunde haben, keine Kunden auf der anderen Seite des Ozeans, keinen eBook-Reader und keine Hörbuch-Bibliothek, kein Online-Banking, ein enzyklopädisches Gedächtnis und tagesaktuelle Straßenkarten aus Papier. Keine Ahnung, wie die Abenteurer früherer Zeiten weiter als 50 Meilen gekommen sind – uns jedenfalls fehlen Wille und Begabung zum analogen Leben. Wir nehmen billigend in Kauf, dass Strom und Wasser im Van nicht einfach aus der Wand kommen und wir zum Wäschewaschen einen Ort mit genug Seelen finden müssen, damit sie dort einen Waschsalon betreiben. Aber beim Internet hört der Spaß auf, das betrachten wir als nicht verhandelbare Grundzutat dieser Reise. Und hatten das Thema eigentlich voll im Griff. Dachten wir.

Mit Siegerlächeln hatten wir vor drei Wochen unser erstes Camp in Mexiko aufgeschlagen und unser neues Spielzeug ausgepackt: Starlink. Das Satelliten-Internet von Elon Musk – und das schönste Weihnachtsgeschenk meines Mannes. Mit waidwundem Blick hatte er (Nico, nicht Elon Musk) zuvor jede der schlanken weißen Schüsseln angeschmachtet, die wir in den letzten Monaten vor den Fahrzeugen anderer Camper gesehen haben. Ich, ganz die strenge Finanzministerin, ersticke mit der Stimme der Vernunft stets alle Begehrlichkeiten bereits im Keim: „So viel muss ich erstmal mit meinen Aufträgen verdienen, dass sich die Betriebskosten dafür rechnen“, lautet mein Totschlag-Argument. Als wir dann Ende des Jahres mehrmals an traumhaft schönen Orten im Off stehen, die wir am nächsten Tag wieder verlassen müssen, weil ich eine Deadline habe, wir aber kein Mobilfunksignal, gerät meine Standhaftigkeit ins Wanken. Erste Recherchen erbringen zwei Erkenntnisse: In Mexiko wird‘s nicht besser mit der Mobilfunkabdeckung – und mit umgerechnet knapp 130 Euro im Monat ist der Starlink-Service vielleicht nicht gerade ein Schnäppchen, aber auch nicht ruinös teuer. Mein Widerstand bröckelt, vom Silicon Valley aus – der Ort scheint uns angemessen – bestellen wir die Hardware. Und Heiligabend steht der FedEx-Mann vor unserer Tür in Oakland und macht einen Nerd sehr glücklich. Nach drei Minuten läuft das Ding und liefert Internet aus dem Weltall – für mich grenzt das irgendwie an Zauberei.

Um es kurz zu machen: Die Zauberei hält in Mexiko genau fünf Tage an, dann spinnt die Schüssel. Ich erspare Euch die Details, die der Mann in zwei Tagen frustrierender Fehlersuche an Hard- und Software und unter Hinzuziehung mehrerer anderer Starlink-Besitzer mitsamt deren Know-how und Kabeln zusammenträgt. Aber das Ergebnis steht irgendwann fest: Das Ding ist kaputt (ich glaube, so lautet der Fachbegriff). Ein Montagsmodell. Schadhaft geliefert und nach wenigen Tagen den Dienst eingestellt. Wir warten auf Antwort vom Starlink-Support, dem Nico seit Auftreten des Problems mehrfach geschrieben und dem er gewissenhaft alle Ergebnisse der gründlichen technischen Analyse mitgeteilt hat. Keine Antwort. Wir warten noch zwei weitere Tage. Immer noch keine Antwort. Wir ziehen die Reißleine und machen von unserem 30-Tage-Rückgaberecht Gebrauch. Kündigen den Vertrag und bitten den Support um Auskunft, wie wir die Schüssel zurück in die USA senden sollen. Erhalten eine automatisch generierte Mail mit Rücksende-Label – allerdings nur für den Versand innerhalb der USA. Zerbrechen uns den Kopf, wie wir ein Paket von Mexiko in die USA kriegen sollen, ohne dafür zwischen 170 und 220 Dollar Versand zu zahlen (und ohne den Starlink für die Einfuhr in die USA ein zweites Mal verzollen zu müssen – wir haben das Ding schließlich in Kalifornien gekauft und dort bereits ordentlich Steuern dafür gezahlt). Finden keine befriedigende Lösung, fahren zwei Wochen lang eine defekte Starlink-Schüssel mit uns herum, hören keinen Pieps vom Support und – das Schlimmste – haben ständig kein Internet! Dann beschließen wir, unserer unerfreulichen Liste noch eine weitere Sorge hinzuzufügen – und bestellen einen weiteren Starlink in Mexiko an eine kleine DHL-Station in La Paz/Baja California. Von dem Moment an, in dem wir auf den „Jetzt kaufen“-Button klicken, wirft Nicos Gehirn Worst Case-Szenarien aus. Was, wenn die DHL-Station das Paket nicht annimmt, weil es mit einem anderen Versender verschickt wird? Was, wenn das Paket verloren geht? Was, wenn es erst in sechs Wochen in La Paz ankommt? Was, wenn es wieder nicht funktioniert? Was, wenn wir keine Lösung für die kaputte US-Schüssel finden und dauerhaft auf den Kosten für zwei Geräte sitzen bleiben? Was, wenn…?

Zwei Tage später erste Entwarnung: Starlink Mexiko hat bereits verschickt – und zwar mit DHL. Über einen Tracking-Link können wir den Sendungsverlauf verfolgen – also auch nicht anders als wenn wir uns Zeug nach Delmenhorst, Tiddische oder Köln-Niehl schicken lassen. „Mexiko ist ja nicht auf dem Mond“, hatte Anne Nico schon vor der Bestellung mit beruhigender Stimme versichert. Noch drei Tage später meldet DHL Vollzug: Das Paket liegt in La Paz. 500 Kilometer südlich von da, wo wir gerade sind, ein Ort, den wir eigentlich erst übernächste Woche auf dem Programm haben. Ich schmiere seufzend Marschverpflegung – ich kenne ja meinen Mann, wir warten nicht, wir brechen am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe auf, um nach La Paz zu rasen; und am Tag darauf wieder zurück, um mit den Mädels unsere neue Schüssel in einer mobilfunkmastfernen Bucht einzuweihen und das Weltall leer zu streamen.

Acht Stunden lang gurken wir über die Baja. Erst entlang der Golfküste, zwischen hellsandigen Buchten und von Palmen und Kakteen bewachsenen Hängen hindurch. Dann ins staubige Innere der Halbinsel: graubraune Hügel soweit das Auge reicht, niedriges Strauchwerk und mehr Kakteen. Ich werde ein bisschen seekrank auf den endlosen Kilometern über gewunden Asphalt, Riffeln und Dellen bringen den Bond zum Schaukeln und Vibrieren. Nach acht Stunden Fahrt wieder zurück an die Golfküste, die Umrisse von La Paz flirren am Horizont. Die Einfahrtstraßen schlaglöchrig, die Straße vor der DHL-Filiale, die um 18.00 Uhr schließt, abgesperrt und aufgerissen, eine riesige Baustelle zieht sich über zwei Blocks. Trillerpfeifende und armwedelnde Verkehrspolizistinnen lotsen den Feierabendverkehr daran vorbei, Google Maps spuckt verwirrt blaue Linien aus, die in sandige Seitenstraßen führen – zehn weitere nervenaufreibende Minuten, dann stehen wir endlich vor der DHL-Filiale. Und sind nach drei Minuten wieder draußen: auf dem Arm meines Mannes ein riesiges Paket, auf seinem Gesicht ein glückliches Grinsen. Der Stellplatz in der Stadt, auf dem wir übernachten wollen, ist überfüllt – aber kurz vor der Dunkelheit landen wir auf einem zauberhaften Campingplatz außerhalb von La Paz, der Mann baut die Satellitenschüssel auf, das Ding verbindet sich mit dem Orbit – und alles ist wieder gut. Wir haben einen funktionierenden Starlink.

Ach ja. Und einen kaputten. Aber das Schicksal meint es mal wieder gut mit uns: Auf dem Campingplatz treffen wir Uschi und Mischa. Zwei Vollblut-Reisende aus Münster, die uns mit Bier und Baguette füttern, uns einen Abend lang mit unglaublichen Abenteuergeschichten aus einem halben Jahrhundert Leben und Arbeiten in fernen Ländern faszinieren, auf die Frage, ob es ein Land gibt, in dem sie noch nie waren, unerhört lange nach einer Antwort suchen müssen – und die ohne mit der Wimper zu zucken anbieten, unseren defekten Starlink mit zurück in die USA zu nehmen und dort an eine FedEx-Station zu übergeben. Problem gelöst! Nach 17 Tagen Schweigen hat heute auch endlich der Starlink-Support die Antwort-Funktion gefunden und uns – nicht ohne Widerstand, aber am Ende haben wir uns durchgesetzt – bestätigt, dass sie die Reklamation akzeptieren und uns unsere Kohle erstatten. Und nun sitzen wir zusammen mit den Mädels in der mobilfunkmastfernen Bucht – und haben Internet. Halleluja.

Und wir haben noch etwas: wieder ein Stück Zutrauen mehr in die Welt. Darin, dass es für jedes Problem Abhilfe gibt. Dass Strukturen funktionieren, auch wenn sie uns unbekannt oder unvertraut sind. Dass überall da, wo Menschen sind, auch Lösungen sind. Dass es uns gelingt, trotz fremder Sprache und bürokratischer Hürden das zu bekommen, was wir brauchen oder wollen. Ein gutes Gefühl.

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