Morgen kann kommen

In meine Gedanken ist Ruhe eingekehrt. Endlich. Monatelang hat es darin getobt und gewirbelt. Seit April rumpelt in mir unaufhörlich die Frage herum, wie es weitergehen soll. Irgendwann unterwegs in Mexiko beschleicht uns das Gefühl, dass ein „Weiter so“ Richtung Süden, wie es eigentlich auf dem Plan steht, möglicherweise nicht mehr das Richtige sein könnte. Überfordert von der Frage – und den möglichen Konsequenzen daraus – flüchten wir im Mai ziemlich spontan nach Deutschland. Aber das Ringen hört nicht auf. Nach den ersten Wochen in der Heimat, nach Wiedersehensglück und Frühlingsrausch, jede Begegnung, jedes Lieblingsessen, jeder vertraute Ort ein inneres Fest, klopft es wieder leise an, das Gefühl, dass etwas entschieden werden will. Dass die Lösung „den Sommer zu Hause verbringen und dann mit neuer Energie zurück auf die Reise“ keine Lösung ist. Sondern nur ein Ausweichmanöver.

Wir gehen mit Linda in den Alpen wandern. Campen in Holland, besteigen den Brocken im Harz. Ich fahre mit meinem Bruder und meinem Patenkind in einem alten, orangefarbenen Landrover Defender mit Dachzelt drei Wochen auf dem Balkan herum. Wir besuchen Anna und Anne bei Annes zauberhaften Eltern, zoomen mit Sissi und Jannis, die inzwischen quer durch Lateinamerika bis auf den südamerikanischen Kontinent weitergereist sind. Wir fahren mit dem Wohnmobil von Nicos Eltern für zwei Monate nach England und hüten dort Häuser und Hunde – und immer wälzen wir dabei die Frage, wie es weitergehen soll. Mal laut, zusammen mit allen, die willens sind, uns zuzuhören. Mal still für uns. Und langsam, ganz langsam kristallisieren sich Formen aus den Gedankenwirbeln heraus. Finden wir Antworten auf die Frage, wie wir in Zukunft leben wollen. Fügen sich die Puzzlestücke, die eigentlich allesamt schon lange verstreut in uns herum liegen, zu einem Plan. Einem, der sich gut anfühlt und uns Lust auf das macht, was da kommt.

Der Plan lautet: Wir drehen noch eine Runde mit dem Bond. Und dann geht es heim. Nicht heim zurück ins das Leben, das wir vor unserem Aufbruch geführt haben. Sondern heim in die Freiheit, jederzeit wieder aufbrechen zu können. Heim zu dem spannenden Projekt, unser Leben in Deutschland so aufzustellen, dass es uns das bietet, was wir seit vier Jahren vermissen – eine feste Homebase, den Komfort einer Wohnung, die Nähe zu unseren Lieben – und das, was wir auf Reisen zu schätzen gelernt haben – Freiheit, Selbstbestimmung, ortsunabhängiges Arbeiten nach unserem eigenen Zeitplan.

Wir wollen das Gute aus beiden Leben behalten. Jetzt, in der Rückschau, klingt diese Erkenntnis so einfach, dass ich mich frage, warum wir so lange dafür gebraucht haben. Aber in den Monaten auf dem Weg zu dieser Entscheidung? Habe ich gemerkt, wie sehr sich das Heimkehren vom Losfahren unterscheidet. Und wie sehr ich immer noch mit dem Bild ringe, das ich von dieser Reise und von mir selbst auf dieser Reise hatte und habe.

Als wir 2017 von der Idee des Langzeitreisens getroffen wurden wie von einem Tornado, hat alles geleuchtet. Das Ziel, der Weg dorthin, alles. In Technicolor habe ich vor meinem inneren Auge unser Leben auf Reisen gesehen. Es hatte eine Form, Farben, einen Geruch, eine magnetische Anziehungskraft. Praktische Schwierigkeiten? Unbequemlichkeiten? Emotionale Herausforderungen? Klar würden wir die unterwegs immer mal wieder erleben. Aber sie haben sich, anders als der ganze Rest der Vision, sehr theoretisch angefühlt. Zu vernachlässigen. Da, um gelöst zu werden. Mein Bild vom Leben unterwegs bestand aus sehr viel Licht und ganz wenig Schatten. Tja. Stellt sich heraus, dass auch der Reisealltag – wie jeder Alltag in jedem anderen Lebensmodell – beschwerlich ist und Kraft kostet. Wir das, anders als in vielen anderen Lebensmodellen, aber kaum durch Ruheräume und kraftsparende Routinen ausgleichen können. Alle paar Tage ein neuer Ort, einer neuer Schlafplatz, neue Menschen, ein neuerliches, hundertstes „Wer bist, woher kommst Du, was machst Du“. Mittendrin in einem Dorf, einer Stadt, auf einem Campingplatz, einem Parkplatz, kaum Rückzugsmöglichkeiten. Immer wieder neu orientieren, kein Da-kenn‘-ich-mich-aus-Supermarkt, keine vertrauten Gesichter, keine Stammkneipe. Jeder Tank- oder Bankautomat, jede Dusche, jede Campingplatz-Waschmaschine unbekannt, jedes Mal müssen wir die Feinheiten der Bedienung neu lernen. An vielen Tagen bleibt wenig Kraft übrig für Entdeckungen und Unternehmungen.

Als wir im Flugzeug von Mexiko nach Deutschland sitzen, denken wir noch, dass wir nur eine Weile Pause brauchen, um anschließend mit neuer Energie die Panamericana weiter Richtung Süden zu bereisen. Aber bald spüren wir, dass das nicht die Lösung ist. Dass wir uns in den nächsten ein, zwei Jahren nicht dauerhaft im Bus in Südamerika herumfahren sehen. Dass sich das Langzeitreisen für uns dem Ende zuneigt. Und was kommt dann? Da wir nie die Absicht hatten auszuwandern, lautet die logische Antwort: Heimkehr. Aber diese Idee leuchtet mal so gar nicht. Kein Technicolor, kein verheißungsvolles Glitzern, keine magnetische Anziehungskraft. Eher ein konturloser Klumpen. Also hadere ich lieber noch ein bisschen weiter mit meinem Bild von der Reise. Und ob wir, wenn wir uns nicht noch besser organisieren und noch mehr schöne Ziele ansteuern, nicht doch endlich so reisen werden, wie ich es mir in meiner Vision ausgemalt hatte: unbeschwert, unternehmungslustig, in einem beflügelnden Mix aus arbeiten und entdecken, selbstverständlich bei stets angenehmen 24 Grad und Sonnenschein sowie vollständiger Abwesenheit von Wind, Staub, Regen und Mücken. Ähm, ja. Wohl eher nicht.

Erst, als mir das klar wird – dass die Realität meine überhöhte Vorstellung von der Freiheit auf Reisen auch bei allem guten Willen nicht erreichen wird – kann ich den Plan langsam loslassen, Südamerika auf die selbe Weise zu bereisen wie bisher Europa und Nordamerika. Damit aber auch das Gefühl loslassen, dass es ein Scheitern wäre, die Reise nicht so durchzuziehen, wie wir sie geplant haben. Anerkennen, dass es in Ordnung ist, Pläne unterwegs der Realität anzupassen und akzeptieren, dass Veränderung – auch Veränderung von Wünschen und Zielen – einfach dazugehört. Dass die Idee von maximaler Freiheit, die uns vor sechs Jahren so elektrisiert hat, und die wir jetzt jahrelang gelebt haben, sich langsam hin zu einer anderen Art von Freiheit verändert. Dass wir stattdessen nach einem Lebens- und Reisemodell suchen, das die Bedürfnisse nach Abenteuer und Beständigkeit besser miteinander verbindet. Erst unter dieser Prämisse beginnt die Idee von der Heimkehr allmählich zu leuchten.

Unerwartete Schützenhilfe erhalten wir von England: Denn in den zwei Monaten dort leben wir quasi zufällig schon ein bisschen so, wie wir es uns für unsere baldige Zukunft ausmalen. Wir lassen uns eine Woche Zeit, um im Wohnmobil von Nicos Eltern an die nordenglische Ostküste zu reisen, wo wir einen Housesit zugesagt haben. Besichtigen Canterbury mit seiner mächtigen Kathedrale und seinen hübschen Fachwerkhäusern, tingeln durch die Grafschaften Kent, Sussex und Surrey, schauen uns Kirchlein und englische Herrenhäuser mit imposanten Gärten an, besuchen Bletchley Park, wo tausende brillante Frauen und Männer während des Zweite Weltkriegs daran gearbeitet haben, die deutsche Kodiermaschine Enigma zu entschlüsseln (seit unserem Besuch im Silicon Valley letztes Jahr steht dieser Ort auf unserer Wunschliste), schlendern durch das Universitätsstädtchen Cambridge und erfreuen uns auf der Fahrt durchs Land an sanften grünen Hügeln, von niedrigen Steinmauern gesäumten Weiden, gemütlich grasenden Schafen, goldenem Herbstlaub und Bilderbuch-Dörfern.

Während unseres Housesits nahe Beverley unternehmen wir ausgedehnte Wanderungen mit unserem unermüdlichen Gasthund Moose im North York Moors Nationalpark und im Peak District. Entdecken bei einem weiteren Housesit die Magie der Cotswolds – diesem wohl englischsten aller englischen Landstriche –, unternehmen vor unser Rückreise nach Deutschland noch einen Abstecher ins malerische Dartmoor im Südwesten Englands, in dem mein Onkel Peter lebt und verlieben uns vollends in die Schönheit und den Liebreiz der englischen Landschaft. Und stellen ganz nebenbei fest, dass diese Mischung aus einem komfortablen Zuhause und eingestreuten Reisetagen oder -wochen sich gut anfühlt. Dass wir in beiden Zuständen arbeiten und entdecken können – und dass es sich anders anfühlt, wenn man eine Wahl hat. Die Wahl, ob man eine Weile vom Camper aus lebt und arbeitet oder von einem Zuhause aus. Diese Wahl möchten wir in Zukunft haben – und je mehr uns das bewusst wird, desto konkreter werden unsere Ideen vom Heimkehren. Desto besser fühlt sich der Gedanke daran an. Ende des Ringens. Morgen kann kommen.

Vor der Heimkehr steht aber noch eine Rückkehr – die Rückkehr nach Mexiko, wo unser Van seit Monaten auf uns wartet, sowie die Rückkehr an einen absoluten Sehnsuchtsort: die Rocky Mountains. Wir haben beschlossen, nicht in die Karibik zu fahren und nicht weiter Richtung Süden zu Maya-Tempeln und Vulkanen, sondern zurück nach Norden. In die USA. Deren überwältigende Landschaften stets als erstes über unsere innere Leinwand flackern, wenn wir ans Reisen denken. Von denen wir auch nach mehreren Besuchen noch nicht genug haben, die uns locken und rufen. Wir werden diesem Lockruf nachgeben und noch einmal eintauchen in die Bergwelten von Colorado, Montana, Wyoming, Idaho. Bevor wir dann Anfang September den Bond in Halifax/Kanada aufs Schiff verladen – und unser Overlanding-Abenteuer vorerst da endet, wo es eigentlich im April 2020 beginnen sollte.

6 Kommentare

    1. Liebe Brit, sag mal kennen wir uns? Euer Bericht deckt sich so unglaublich mit unseren Erlebnissen und Gefühlen, es fühlt sich an als hättest Du unsere Gedanken aufgeschrieben. Das muss Seelenverwandschaft sein 🙂
      Wir wünschen Euch alles Gute für die Verwirklichung Eurer Träume, ganz liebe Grüße aus Arizona von Michaela und Peter

      1. Ihr Lieben, es klingt, als sollten wir das mit dem persönlich Kennenlernen dringend nachholen! 🙂
        Habe gerade mal kurz auf Euren Blog geschaut und sofort Lust bekommen, da länger abzutauchen – unsere Begeisterung für die Berge, amerikanische Nationalparks und das Wandern teilen wir auf jeden Fall auch!

        1. Das würde uns wirklich sehr freuen! Wir sind noch bis Ende April 2024 in den USA und übernehmen dann ein Housesitting in den Dolomiten. Die Welt ist ja bekanntlich klein, vielleicht fahren wir uns ja mal über den Weg. Liebe Grüße von uns

  1. Ein sehr aufschlussreicher Bericht. Ich war leider nie eine Langzeitreisende weil wir aus unserem Leben hier nicht einfach die Türe hinter uns zu ziehen können. Wir sind selbstständig und haben ein Büro mit 6 Mitarbeitenden.
    Die Sehnsucht und das Gefühl, das Langzeitreisen das richtige Leben ist, hat mich lange begleitet. Wir reisen viel aber der Traum galt einer dauerhaften Reise. Bis mir einer meiner tausend Leute, denen ich voller Sehnsucht auf Insta folge, den Vorschlag machte, es doch mal mit 2-3 Monaten zu versuchen, das kann man sicher auch mit dem Büro in Einklang bringen, wenn man es gut vorbereitet. Irgendwie war das der Schlüssel. Wir waren in 2023 einmal quer durch Kanada von Vancouver nach Halifax mit dem Camper unterwegs und im September und Oktober für zwei Monate mit dem eigenen Wohnmobil in Europa, hauptsächlich Griechenland. Für die Zukunft ist es für mich genau das Richtige. Ich habe ( ohne es ausprobiert zu haben) meine Sehnsucht nicht mehr danach alles hinter mir zu lassen. Ich freue mich zu Hause zu sein genauso wie unterwegs zu sein. Ich hoffe, dass wir dieses „freie Leben“ noch lange so führen können. Im Mai/Juni soll es nach Skandinavien gehen.
    Vielleicht planen wir aber auch um. Bzw. planen wir eigentlich sowieso nie.
    Trotzdem folge ich immer noch gerne den Berichten auf Insta und schaue mir gerne YouTube Videos von Langzeitreisenden an aber ohne das Gefühl der Sehnsucht. Das tut gut!

    Ich kann deine Gedanken so gut nachvollziehen und freue mich über diesen Beitrag. Alles Gute für dich und deinen neuen Lebensentwurf!

    1. Liebe Petra, vielen Dank für deinen ausführlichen Kommentar, du glaubst gar nicht, wie beflügelnd ich den finde. Dein Weg ist mir bisher selten begegnet: Ich kenne vor allem Menschen, die lange gereist sind und dann irgendwann nach etwas suchen, das ihnen auch wieder mehr Möglichkeiten des zur Ruhe Kommens bietet; des irgendwo Hingehörens. Du bist den umgekehrten Weg gegangen und zum selben Ergebnis gekommen, das finde ich unglaublich ermutigend. Es ist einfach immer wieder inspirierend wie viele unterschiedliche Lebensmodelle es gibt und dass eben nicht nur Schwarz oder Weiß existieren. Dass jeder seine eigenen Grautöne finden muss. Das ist nicht so einfach, wenn man merkt, dass das „klassische Modell“ für einen nicht so gut funktioniert. Denn für alles andere sind die Vorbilder – oder die eigenen Wege – viel weniger sichtbar oder schwerer zu finden. Umso mehr feiere ich die vielen ermutigenden Rückmeldung zu meinen Gedanken. Natürlich kann uns niemand die Arbeit abnehmen, unseren eigenen Weg zu finden. Aber es tut gut, zu lesen und zu hören, dass andere den Struggle mitfühlen und nachvollziehen können! Denn am Ende wollen wir doch alle irgendwie die Sehnsucht in uns stillen, oder?
      Danke auf jeden Fall für Deine Nachricht, sie hat mir was Neues zum Nachdenken gegeben 🙂

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