Der Fluch des schnellen Reisens

Als mein Chef mir viereinhalb Wochen Urlaub am Stück genehmigt hat – VIEREINHALB WOCHEN! – habe ich mich gefühlt wie der reichste Mensch auf Erden! So viel Zeit! Nur zum Reisen! Was wir da alles sehen können! Jetzt, nachdem drei Wochen dieses kostbaren Schatzes aufgezehrt sind, zerreißt es mich fast. So viele Orte, an denen wir vorbeigeflogen sind ohne anzuhalten. Nationalparks, die wir bloß auf der Karte gesehen haben. Panoramen, die ich nur schnell fotografiert habe, anstatt sie hingebungsvoll und ausdauernd zu bestaunen, wie es ihnen angemessen gewesen wäre. So viel Welt, und nur so wenig Zeit! Ich habe Fernweh, obwohl unsere Reise noch gar nicht vorbei ist.
Seit zwei Tagen fahren wir durch Montenegro, und ich sauge das Land in mich auf. Ich würde am liebsten nicht blinzeln, um nur ja nichts zu verpassen. Ich möchte schnell machen, um so viel wie möglich zu sehen, und ganz langsam, um dieses kleine Schmuckstück von einem Land intensiv zu erleben. Ich bin Nico unglaublich dankbar dafür, dass er die ganze Zeit fährt und ich andächtig nach draußen schauen kann.
Zehn Tage haben wir in Albanien verbracht und uns begeistern lassen von der Wildheit und Erhabenheit der Berge, dem Kontrast zwischen dem einfachen, dörflichen Leben vieler Menschen und der spektakulären Natur. Schönheit und Schmutz lagen hier oft nah beieinander. Montenegro ist anders. In der ersten Nacht nach dem Grenzübertritt – wieder hat niemand nach der grünen Versicherungskarte gefragt – merken wir das noch nicht: Wir verbringen sie mal wieder in erhöhter Position mit traumhaftem Ausblick an den Ruinen der alten Stadt Svaç, Nico bugsiert unseren Bus dafür einen 300 Meter langen, schmalen und ausgewaschenen Karrenweg voller Feldsteine hinauf. Wir haben den Ort für uns alleine und genießen unseren Kaffee am nächsten Morgen – endlich mal – im Sonnenschein.

Dann machen wir uns auf den Weg zur Bucht von Kotor – wir haben durch die ungeplante Fahrt durch Italien und Griechenland viel weniger Zeit für den Balkan als gehofft und können uns daher nur zwei Highlights für Montenegro herauspicken, wenn wir auf Bosnien und Kroatien nicht komplett verzichten wollen. Was für ein Dilemma! Bereisen wir besser noch ein Land gründlich und fahren durch die anderen beiden ohne Halt durch? Oder besuchen wir einen oder zwei Orte je Land in dem Wissen, dem Land damit absolut nicht gerecht zu werden? Wir entscheiden uns erst mal für die zweite Variante, auch wenn mich der Gedanke ganz verrückt macht, so viel Schönes unbeachtet links liegen lassen zu müssen. Ich tröste mich damit, dass wir dieses Dilemma auf der großen Reise nicht haben werden: Zeit wird dann nicht mehr der begrenzende Faktor sein.

Der Weg nach Kotor führt an der kompletten Küste des kleinen Landes Montenegro entlang – und schnell fühlen wir uns ganz weit weg von Albanien. Wir könnten auch in Spanien sein oder in Italien, da, wo grün bewachsene Hügel und Felsen auf tiefblaues Meer treffen und Strandliegen auf Sonnen-Touristen warten. Es gibt hier Supermärkte und Cafés, die mit professioneller Leuchtreklame einladen, und die Kassiererin wiegt das Obst nicht mit Gewichten ab und addiert die Rechnung nicht per Hand. Wie fahren an diesem Tag die ganze Küste des Landes hinauf, die Sonne strahlt, ich wünsche mich auf eine der Strandliegen oder in ein kleines Restaurant am Meer, in dem ich unter einem Sonnenschirm einen Salat essen und ein Glas Weißwein trinken kann. Erst jetzt fällt mir auf, wie reduziert und einfach in Albanien vieles war. Wir haben gut gelebt in Albanien, und ich habe nichts vermisst – aber ich nehme es als verlockend wahr, jetzt, wo es wieder da ist, das bisschen extra Luxus.
Die Küste von Montenegro ist bezaubernd, Buchten, Meer und auf der anderen Seite die grünen Berge.

Die Bucht von Kotor ist der südlichste Fjord Europas, lesen wir – und sind beeindruckt, als wir in Kotor ankommen. Beeindruckt, aber auch etwas überfordert: Der kleine Ort wimmelt von Touristen, draußen in der Bucht liegt ein Kreuzfahrtschiff und alle scheinen auf Landgang zu sein. Hinter dicken Mauern winden sich mittelalterliche Gassen, steinerne Gebäude säumen winzige Plätze, es erinnert mich an Oviedo oder Segovia im Kleinforrnat. Etwas abseits des Trubels finden wir ein Lokal, ich bekomme meinen Salat und mein Glas Weißwein. Wir sitzen in der Sonne und ich fühle mich wie im Urlaub.
Gegen Abend klettern wir mit unserem Bus so viele Serpentinen hinauf, bis über uns nichts mehr ist. Unter uns die Bucht von Kotor in ihrer ganzen Pracht, noch hundertmal eindrucksvoller als vom Hafen aus zu sehen. Zum ersten Mal werden wir unseren Stellplatz für die Nacht mit einigen anderen Vans teilen – er ist zu spektakulär, als dass wir ihn für uns alleine hätten. Wir klettern auf das Dach von Mr. Norris, trinken unser letztes albanischen Bier und warten auf den Sonnenuntergang.

Ich möchte die vielen Eindrücke der letzten Tage niederschreiben, aber dann kommt Kate vorbei. Sie ist Slowakin, reist seit ein paar Monaten mit ihrem australischen Freund in einem deutschen Camper mit polnischem Kennzeichen – und wollte kurz Hallo sagen. Wir quatschen übers Reisen, fachsimpeln über den Busausbau und kommen vom Hökschen aufs Stöckchen, irgendwann kommt ihr Freund James dazu und wir zeigen uns gegenseitig unsere Zuhause. Es ist schön, Gesellschaft zu haben. Die Sonne versinkt derweil dramatisch hinter dem Fjord, die Bucht glüht, verblasst dann quecksilbern, und in der Dunkelheit beginnen die Lichter der Orte rund um den Fjord zu glitzern. Über Mr. Norris erscheint Stern um Stern am Firmament, wir haben so viel gequatscht, dass ich nicht mehr zum Schreiben komme und aus dem Abendessen eine schnelle Pasta mit Pesto wird. Aber das war die unerwartete Begegenung allemal wert.

Heute früh wollten wir eigentlich weiter reisen in den Nordosten, zum Durmitor Nationalpark. Aber der Strand sah so verlockend aus gestern und die Sonne strahlt so warm, dass wie beschließen, noch einmal eine gute halbe Stunde zurück an die Küste zu fahren. Ich muss noch einen Auftragstext schreiben und brauche Internet – warum das Nützliche nicht mit dem Angenehmen verbinden und am Meer arbeiten?

Am Nachmittag heißt es dann aber endgültig Aufbruch: Wir nehmen die Straße ins Landesinnere. Und was für eine Straße! Dieses Land ist eine einzige Berglandschaft! Alles grün, verwunschen, geschwungen, immer wieder Blicke aufs Meer oder auf den riesigen Skadarsko-See in der Ferne. Ich suche, seit wir in Montenegro sind, nach dem passenden Adjektiv füe die Anmutung dieser Landschaft. Proper? Adrett? Üppig? Nicht wild wie in Albanien, aber auf andere Weise genauso schön. Wir fahren hoch über dem Fluss Moraća entlang, der glasklar durch eine steinige Schlucht fließt. Wir wollen morgen in die Tara-Schlucht, eine der größten Naturwunder Montenegros. Aber das, woran wir hier entlang fahren, müsste doch schon mindestens ein Nationalpark sein, so fantastisch windet sich hier der Fluss durch den tiefen Fels?

Ich komme aus dem Staunen nicht heraus und beklage einmal mehr die verinnende Zeit. Will auf dem Campingplatz, den wir ansteuern, um Zeit zu sparen und nicht mehr einkaufen und kochen zu müssen, endlich alles aufschreiben – aber da habe ich im wahrsten Sinne des Wortes die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Als wir vor seinem Holzhaus am Campingplatz vorfahren, winkt er uns fröhlich hinein. Draußen regnet es mal wieder, drinnen brennt ein munteres Feuer im Ofen. Es ist dunkel und warm und Goran, der Wirt, lächelt meine eilige Frage nach einem Stellplatz für die Nacht einfach weg. Jetzt gibt es erst mal einen Schnaps. Zum Aufwärmen und zur Begrüßung. Und dann noch einen. Auf einer Leinwand laufen Sport-Videos, die er von seinen Gästen in der Umgebung seines Platzes gemacht hat: Mountainbiken, Motorradfahrern, Wandern, Rafting, Paragliding – die Gegend ist ein wahrer Outdoor-Spielplatz. Ich spüle den Gedanken daran, was wir hier alles NICHT werden tun können, weil wir keine Zeit haben, mit dem zweiten Schnaps hinunter.
Beim Abendessen kommen wir ins Gespräch mit den beiden einzigen anderen Gästen, Marlis und Yannik aus Stuttgart. Ein junges Pärchen, das schon weit gereist ist. Wieder tauschen wir Geschichten aus, sammeln Ideen, speichern Ratschläge und Erfahrungen anderer für später für uns selbst. Wieder eine schöne Begegnung – also sitze ich erst jetzt, nach Mitternacht, zusammengekauert im Bus, um endlich alles aufzuschreiben. Und morgen neue Erlebnisse und Begegnungen zu sammeln. Denn auch wenn ich das Verfliegen der Zeit bedaure – sie bleibt damit trotzdem unfassbar reich.

2 Kommentare

  1. Tjaja, da hat man ein Jahr frei und trotzdem ist die Welt einfach zu groß und man muss soviel am Straßenrand zurücklassen.
    Unsere Erfahrung ist, daß man mit der Länge der Reise aber auch immer kürzere Distanzen zurück legt und dann fast gar nicht mehr vorwärts kommt.

    Wenn ich mir eure Reiseroute von 2020/21 anschaue, seid ihr auch noch nicht sonderlich weit gekommen und habt aus dieser Balkanreise „gelernt“.

    Deine Texte hier sind echt schön geschrieben und könnten von der Art und Weise auch von uns sein. Die Art des Reisens, das Gefühl zu viel zu verpassen bspw.

    Bestimmt werde ich noch den ein oder anderen Abend die Artikel hier lesen und bin gespannt auf Neues vom anderen Ende des Mittelmeeres.

    1. Ja, mit der Zeit wird man immer langsamer, nimmt die Dinge aber auch intensiver wahr. Das empfinden wir genauso. Und du hast recht, da haben wir aus unserer Balkanreise gelernt. Den Luxus des langsamen Reisens können wir uns allerdings auch nur leisten, weil wir zeitlich nicht begrenzt sind. Das ist aber eben auch der Unterschied zu Urlaub. Habt ihr einen Blog, auf dem man ein bisschen sehen kann, was ihr so treibt? Oder einen Instagram-Account?

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