Transit

Nach Monaten des langsamen Reisens fliegt die Welt seit letztem Samstag nur so an uns vorbei. Durch den äußersten Westen Rumäniens fahren wir noch recht gemächlich, immer an den Ausläufern der Karpaten entlang. Landen am zweiten Tag in einem Ort namens Herkulesbad, durch den die Menschen in Badekleidung spazieren, an den Straßen zahllose Hotels und Restaurants sowie meterlange Verkaufsregale mit bunten Sonnenschirmen, Strohhüten, Flipflops und Schwimmtieren. Ein Kurort mit mehreren Heilwasserquellen, in dem schon zu Zeiten des Römischen Reiches die Kurgäste planschten. Heute erinnert er eher an Ballermann im Banat, nur das Durchschnittsalter der Besucher dürfte höher sein. Aus jeder Bar hören wir mehr oder weniger geglückte musikalische Einlagen von Alleinunterhaltern, bis spät abends schallen die Klänge den Berg hinauf, auf dem wir unser Nachtlager aufgeschlagen haben. Das Beste an Herkulesbad (und der Grund, weswegen wir hier sind): Es ist der Einstieg zu zahlreichen Wanderwegen im Nationalpark Domogled. Einen davon, hoch zum Aussichtspunkt „Crucea Alba“, suchen wir uns am nächsten Tag aus: nicht lang, aber knackig steil, was ihn zusammen mit einer Außentemperatur von weit über 30 Grad zu einer schweißtreibenden Angelegenheit macht.

Danach geht es weiter Richtung Timisoara, durch das wir uns bei 38 Grad schleppen. Gut, dass wir in diese hübsche Stadt, deren prachtvolle Architektur an Wien erinnert, im August noch einmal kommen werden, wenn wir mit Linda und Hanna zu einer einwöchigen Wandertour durch die Karpaten nach Rumänien kommen. Im Moment ist es einfach zu heiß, um hier irgendwas mit Genuss zu unternehmen. 

Als wir Timisoara Richtung Westen und ungarische Grenze verlassen, beginnt die Suche nach einem Schlafplatz. Wir fahren auf der angenehm schlaglochfreien Landstraße (was für ein Unterschied zu Bulgarien!) in den Sonnenuntergang. Rechts und links Felder, soweit das Auge reicht. Getreide, Mais, Sonnenblumen. Dekorativ aufgeschichtete Heuhaufen auf bereits abgeernteten Äckern. Dazwischen hübsche kleine Dörfer, die mich an Norddeutschland erinnern. Alles sehr malerisch – aber definitiv ungeeignet für einen Stellplatz. Irgendwem würden wir hier mit Sicherheit auf den Füßen stehen.

Wir verlassen die Landstraße und folgen einem schmalen Weg in Richtung eines Flusses, an dem es ein kleines Lokal geben soll. Wir planen die Griechenland-Methode: dort essen und den Wirt fragen, ob wir auf seinem Parkplatz übernachten dürfen. Leider Fehlanzeige, vor dem Restaurant sieht es aus wie im Garten eines Messies, hier fühlen wir uns nicht wohl. Als wir in einen Feldweg einbiegen in der Hoffnung, dort eine stille Ecke zu finden, hören wir hinter uns ein Hupen. Schnell legen wir den Rückwärtsgang ein, das ist bestimmt der Bauer, dem es nicht gefällt, dass wir in seinen Feldweg fahren. Denken wir. Dann steht plötzlich eine Frau neben unserem Fenster und fragt auf deutsch, ob wir etwas suchen. Wir drucksen erst ein wenig herum und erklären dann, dass wir auf der Suche nach einem Schlafplatz sind. Sie übersetzt für ihren Mann, der ebenfalls aus dem Auto gesprungen ist und nun mit dem vergnügten Grinsen eines Schuljungen neben ihr steht. „Wir können helfen“, sagt die Frau. „Wir haben Platz, kommt einfach mit.“

Da ist sie also, die Situation, von der wir schon so oft gehört haben. Wildfremde Menschen laden einen zu sich nach Hause ein, fast jeder Reisende hat eine solche Geschichte zu erzählen. Wir befragen kurz unser Bauchgefühl, aber hier fühlt sich nichts seltsam an. Wir verabreden trotzdem, dass wir uns unter einem Vorwand wieder verdrücken, falls wir es bei den beiden zu Hause irgendwie komisch finden sollten. Aber das wird nicht nötig – stattdessen dürfen wir für einen Abend in die Gastfreundschaft einer rumänischen Familie eintauchen. Lavinia und Emil haben das Haus, in das sie uns führen, mit eigenen Händen erbaut. Ganz fertig ist es immer noch nicht, Lavinia hebt bedauernd die Schultern: „Das ist eine Lebensaufgabe!“ Vier Söhne haben die beiden, Lavinia arbeitet seit einigen Jahren in Wien als Altenpflegerin. Drei Wochen ist sie in Wien, dann wieder drei Wochen zu Hause bei ihrer Familie. In Rumänien gebe es kaum Möglichkeiten, ausreichend Geld zu verdienen, sagt Lavinia. Daher nimmt sie alle drei Wochen den langen Weg nach Wien auf sich. Während sie erzählt, bereiten sie und Emil uns ein Abendessen zu – wir wissen gar nicht so schnell, wie uns geschieht. Eigentlich wollten wir doch nur unseren Bus in ihrer Auffahrt parken. Aber unsere vorsichtigen Einwände, dass wir ihn keinesfalls zur Last fallen möchten, wischen sie resolut vom Tisch. Wir lernen zwei ihrer vier Söhne kennen, Daniel und Samuel. Der 15-jährige Samuel spricht lupenreines amerikanisches Film-Englisch und ist hocherfreut, dass er sich in einer Sprache mit uns unterhalten kann, die seine Eltern nicht verstehen. „Er soll Deutsch sprechen“, schimpft Lavinia. „Er versteht alles, aber er hat einfach keine Lust, zu sprechen.“ Deutsch, lernen wir schnell, ist die Eintrittskarte zu einem besser bezahlten Job in Deutschland oder Österreich. Bis beinahe Mitternacht sitzen wir bei Emil und Lavinia in der Küche und warten, dass die größte Hitze des Tages vorbeigeht. Ein Tischtennisspiel zwischen Nico und Emil sowie eine köstliche kühle Dusche später schlüpfen wir zum Schlafen in unseren Bus – ist es wirklich erst vier Stunden her, dass wir die beiden auf einem Feldweg kennengelernt haben?

Als wir uns am nächsten Tag von der Familie verabschieden (und nachdem Lavinia uns noch zwei Gläser Kompott und ein Glas selbst gekochte Erdbeermarmelade zugesteckt hat), ist das Thermometer bereits wieder auf 38 Grad geklettert. Wir geben auf – und Gas: Für gemächliches Reisen ist das einfach zu heiß. Von Ungarn sehen wir nur Autobahn und einen hübschen kleinen Campingplatz, über den wir durch Zufall stolpern, als wir versehentlich von der Autobahn abfahren. Wir bleiben zwei Nächte – und kurze Zeit später sind wir auch schon in Österreich. Weiter geht’s auf der Autobahn. Und ich fühle mich mit jedem Kilometer, den wir Deutschland näher kommen, seltsamer. Freue mich auf Zeit zuhause, mit Familie und Freunden. Aber habe gleichzeitig Angst, dass es so sein könnte, als wären wir nie weg gewesen. Dass all die noch zarten und zerbrechlichen Erkenntnisse und Errungenschaft der ersten zehn Monate dieses großen Abenteuers plötzlich gar nicht mehr wahr sein könnten. Sich verflüchtigen unter dem übermächtig Vertrauten der Heimat.
Also doch noch mal Tempo rausnehmen. Die Hitze ist 21 Grad und Regen gewichen, seit wir gestern Abend in Melk an der Donau angekommen sind. Das Dreifache für ein Essen im Restaurant bezahlt haben als in Griechenland oder Bulgarien und uns im freitagabendlichen Touristentreiben in der pittoresken Altstadt gefühlt haben wie Außerirdische. Gleich werden wir uns das berühmte Kloster hier ansehen – und dann, wenn wir ganz langsam weitertrödeln, Montagabend bei meinem Bruder in München sein. Ich freu mich wie Bolle – auf das Wiedersehen, aber auch darüber, dass es nur eine achtwöchige Unterbrechung unserer Reise sein wird, die, wenn man die Ursprungsroute Panamericana zugrunde legt, ja eigentlich noch gar nicht richtig angefangen hat…

Ein Kommentar

  1. Und wieder haben wir uns knapp verpasst. Am 13. Juli passierten wir auch München und waren vorher eine Weile in Österreich. Es ist aber verflixt mit der größe dieser Welt.

    Falls ihr zufällig im Anschluss Richtung Sachsen-Anhalt fahrt, sagt mal Bescheid. Wir sind ab heute nämlich wieder seßhaft.

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