Im wilden Retezat

Als wir aus dem Wald auf die grasbewachsene Hochebene treten, sind wir bereits klatschnass. Die Bäume haben zwar ein wenig Schutz geboten, aber zwei Stunden Dauerregen konnten auch sie nicht von uns fernhalten. Wir sehen die Schafsherde schon von weitem – und wissen aus der Erfahrung der vorherigen Tage: Jetzt dauert es nicht mehr lange, bis auch die Hunde uns entdecken werden. Mit gesenkten Köpfen kämpfen wir uns vorwärts, der Wind peitscht den Regen fast waagerecht gegen unsere Leiber und die riesigen Rucksäcke, die wir seit vier Tagen die Berge hinauf und hinab schleppen. Dann schlagen die Hunde an. Sieben oder acht der großen Tiere stürmen über die freie Fläche auf uns zu, weit hinten sehen wir den Schäfer herantrotten, in einen riesigen Regenponcho gehüllt und mit Plastiktüten um die Unterschenkel gewickelt, die ihn vor der Nässe schützen sollen. Die Hunde sind schneller als er. Allen voran ein grau-weißer Giftknochen mit verzotteltem Fell, der gefährlich knurrt – eindeutig der Chef des Rudels. Während sich die anderen Hunde – nicht weniger verzottelt – aufs Kläffen und Drohen beschränken, senkt er den Kopf und fletscht die Zähne. Ich wundere mich eine Sekunde lang, wie rosa und zart sein Zahnfleisch aussieht  – dann greift er an.

Bis zu diesem Zeitpunkt war unsere Tour durch den Nationalpark Retezat, einem Teil der rumänischen Karpaten, von Sonnenschein und Camping-Romantik geprägt. Und von sehr viel Schlepperei. Rund 50 Kiloneter und fast 3.000 Höhenmeter haben wir zu diesem Zeitpunkt bereits hinter uns, jeder von uns Vieren mit einem Ausgangsgewicht von etwa 19 Kilogramm. Mit jeder Mahlzeit wird der Rucksack ein paar Gramm leichter – und wir bei jedem Schritt mit traumhaften Blicken und Pracht-Wanderwetter belohnt. Steile Anstiege durch uralte Wälder, über zahllose Hügelkuppen und sanft gerundete Gipfel mit kniehohem, sandfarbenem Gras bewachsen, das mich in der milden Spätsommersonne an Savannengras erinnert (ich war noch nie in Afrika, aber so stelle ich mir das vor), gluckernde Bergbäche, die uns täglich mit Wasser versorgen, gelegentlich schroffe Felspassagen, aber doch meist mehr Vegetation, als wir es von den Alpen auf diesen Höhen zwischen 1.700 und 2.300 Metern kennen. Gestern und vorgestern haben wir nicht in unseren Zelten geschlafen, sondern in Schutzhütten der rumänischen Bergwacht „Salvamont“ – wir sind in Bärengebiet unterwegs, und wenn wir die Gelegenheit haben, ziehen wir einen sicheren Schlafplatz unter einem schlichten Holzdach dem Zelt vor. Im Refugio Gugu sind wir so auch zum ersten Mal auf der Tour mit anderen Wanderern ins Gespräch gekommen: Alex und Silvio haben eine Tagestour auf  den Gipfel des Gugu unternommen, sie kommen uns bereits entgegen, als wir von dort über einen Grat absteigen. Für uns mit fast 2.300 Metern der höchste Punkt unserer sechstägigen Tour, von dem wir schwerfällig unsere Ladung die letzten Kilometer Richtung Refugio hinunter schleppen, für die beiden eine schnelle Sporteinheit, als sie mit leichtem Gepäck an uns vorbei Richtung Gipfel hüpfen. Abends unterhalten wir uns auf wackeligen Holzbänken im Dunklen vor der Hütte (Licht oder Strom gibt es nicht in den Schutzhütten), sie erzählen von völlig überlaufenen Regionen im Retezat, in denen sich für das launische Wetter in den Bergen gänzlich ungeeignet gekleidete Leute zum Partymachen an den beliebten Aussichtspunkten treffen. „Es ist wunderschön dort, aber geht nicht am Wochenende hin, da ist es einfach nur voll „, warnt Alex in lupenreinem Deutsch  – seine Großmutter hat die Sprache mit ihm gesprochen. Wir haben uns für unsere Trekkingtour einen Teil des Nationalparks ausgesucht, für den es nicht einmal eine Wanderkarte gibt  – andere Wanderer haben wir bis zu dem Zeitpunkt noch gar nicht getroffen, nur Hirten. Und ihre Hunde. Und zum Glück keine Bären.

Bären waren ein großes Thema für uns während der Vorbereitung: In den Karpaten lebt eine der bedeutendsten Braunbär-Populationen Europas, auf 5.000 Exemplare wird ihr Bestand derzeit geschätzt. Wir wollen keinem von ihnen begegnen und sie auch nicht mit dem Duft unserer Lebensmittel, Sonnencreme oder Zahnpasta anlocken. Daher schleppen Linda und Nico je einen Bärenkanister in ihrem Rucksack mit, in den wir abends am Camp Müsliriegel, Trekkingnahrung und unsere wenigen Hygieneartikel stopfen, sie ein paar hundert Meter abseits unserer Zelte verstecken und hoffen, dass der Bär sie, sollte er sie entdecken, beim Versuch, sie zu öffnen, nicht irgendeinen Abhang hinunter rollt, wo wir sie am nächsten Morgen mühsam bergen müssten. Bären haben extrem feine Nasen, der Container verhindert nicht, dass sie den Inhalt riechen, wohl aber, dass sie herankommen und unsere Vorräte vernichten. Wir hätten keine Chance, neue zu beschaffen. Alex sieht unseren Container und fragt, ob wir auch Bärenspray dabei haben zur Verteidigung. Haben wir nicht – im Flugzeug darf man sowas nicht mal im Aufgabegepäck mitnehmen und bei unserer Ankunft in Timisoara kommen wir 15 Minuten zu spät an dem Laden an, der angeblich welches verkauft: schon geschlossen. „Nicht mal Böller?“, fragt er. Auf diese ebenso effektive wie leichtgewichtige Idee sind wir noch gar nicht gekommen und umso glücklicher, als uns die beiden Jungs am nächsten Morgen zwei ihrer Böller schenken: Sie steigen ab zu ihrem Auto und brauchen sie nicht mehr. Von da an ziehen wir nicht nur singend und regelmäßig die Wanderstöcke gegeneinander schlagend durch die Wälder, um nicht versehentlich einen unaufmerksamen Bären zu überraschen, sondern auch mit dem guten Gefühl, Meister Petz im Falle einer Begegnung mit einem lauten Knall in die Flucht schlagen zu können. Als gefährlicher haben sich allerdings bisher die Hütehunde erwiesen.

Der grau-weiße Giftknochen stürzt mit gefletschten Zähnen auf uns zu und zielt auf unsere Beine. Wir tun, was wir von den Schäfern abgeguckt haben: Wir schwingen die Wanderstöcke, brüllen und gehen zwei Schritte auf den Rudelchef zu. Er weicht zurück, zieht die Lefzen aber nur noch höher und knurrt gefährlich. Macht einige Schritte zur Seite, während von der anderen Seite zwei weitere Hunde versuchen, uns zu umrunden. Sie kreisen uns ein  – so jagen Wölfe. Wir drängen uns im strömenden Regen mit den Rucksäcken aneinander, jeder von uns verteidigt mit Stöcken und Gebrüll in eine der vier Himmelsrichtungen. Endlich schlurft der Hirte heran. Brüllt ebenfalls die Hunde an und schwingt den Stock. Die Hunde knurren und kläffen weiter, gehen aber etwas auf Abstand. Auf den Hirten hören tun sie nicht wirklich, sie arbeiten so eigenständig und haben ein so großes Selbstbewusstsein, dass der Hirte zwar der Futtergeber und der mit dem Stock ist, mitnichten aber von ihnen als Rudelführer akzeptiert wird. Sie entscheiden selbst, wen oder was sie als Bedrohung betrachten, die vertrieben werden muss. Der Hirte hält uns jedoch den Rücken soweit frei, dass wir gegen Wind und Regen an der Herde vorbei den Hügel hinauf gehen können. Wir atmen durch und es dauert eine ganze Weile, bis nicht mehr ganz so viel Adrenalin durch unser Blut rauscht.

Sechs Stunden später öffnen wir tropfnass die schwere Holztür der Schutzhütte am Lakul Zanoaga auf 2.000 Metern. Draußen herrschen acht Grad und der Wind pfeift. Nach der Begegnung mit den Hunden hat uns der Weg im Nebel durch so dichtes Kieferngestrüpp geführt, dass ich nicht glauben kann, dass das wirklich unser Weg sein soll. Wären da nicht die eindeutigen blau-weißen Markierungen gewesen, ich hätte an den bis dahin über jeden Zweifel erhabenen Navigationsfähigkeiten von Linda und Nico gezweifelt. Aber das ist der Weg, also pressen und drücken wir uns und unsere Rucksäcke zwischen den dichten, dicken Zweigen hindurch (die Einheimischen nennen das Zeug „Jneapan“, „Schneppan“ gesprochen, wie unser Gastgeber Mihai, bei dem wir vor und nach der Tour wohnen, uns später erzählt), an manchen Stellen müssen wir kriechen. Weiter geht es durch einen Urwald, dessen magische Schönheit mir selbst im strömenden Regen den Atem verschlägt. So sahen Wälder vor Hunderten von Jahren aus, als der Mensch sie noch nicht zu forstwirtschaftlichen Zwecken umgebaut hatte. Umgestürzte Bäume, Farn-überwucherter Boden, bemooste Felsen, 30 Meter hohe Laub- und Nadelbäume, deren Kronen im Nebel verschwinden. Am tiefsten Punkt des Waldes überqueren wir von Stein zu Stein springend einen Fluss – nur um beim Aufstieg auf der anderen Seite noch mehr Kieferngestrüpp vorzufinden. Das Quetschen und Schieben geht weiter, der riesige Haufen Bärenscheiße mitten auf dem Weg entgeht keinem von uns – aber wir sind viel zu fertig, um noch Kraft für Panik zu haben. In der Hütte angekommen (dem Bären war es offenbar doch zu ungemütlich draußen zum Futtersuchen in Wanderrucksäcken) schälen wir uns aus den nassen Klamotten und dekorieren damit die Wäscheleinen, die unter der niedrigen Holzdecke gespannt sind  – und verdrücken dann Tütensuppen, Trekkingnahrung, Müsliriegel, Schokolade und alles, was noch in unseren Rucksäcken steckt: Der Tag hat Kraft gekostet und morgen müssen wir „nur noch“ 1.000 Höhenmeter absteigen, dann sind wir wieder am Stausee, an dem wir unsere Tour fünf Tage zuvor gestartet haben.

Am Abend darauf, geduscht, in sauberen Klamotten und jeder mit einem großen, frisch gezapften Bier vor der Nase, schauen wir uns stolz an: Das war ein echtes Abenteuer und höllisch anstrengend  – aber wir haben es geschafft, mit schmerzenden Füßen aber alle unverletzt, und wir haben KEINEN Muskelkater, nur schlappe Beine und zwickende Knie. Wir fühlen uns wie die Könige. Aber auch sehr demütig: Wir hatten mit Ausnahme des einen Tages so viel Glück mit dem Wetter und außerdem die Unterstützung unseres schweineteuren, ultraleichten Equipments inkl. digitaler Navigation und Notfall-GPS. Wir denken an Johann, dem wir unterwegs zwei Mal begegnet sind. Der still und schüchtern am Refugio Stanuleti neben uns saß und erst auf Nachfrage damit herausrückt, dass er seit 30 Jahren in den Bergen Rumäniens wandert. Mit einem uralten, riesigen Rucksack, von dem er noch nichtmal genau weiß, was der wiegt (während wir akribisch jedes Gramm gezählt haben, das wir uns auf den Rücken geladen haben) – in Jeans und Baumwoll-Shirt und einer auf Papier ausgedruckten Karte. Mit einer Trillerpfeife um den Hals gegen die Bären. Und mit einem Erfahrungsschatz, den wir gerade erst anfangen zu sammeln.

3 Kommentare

  1. Meine große Bewunderung habt Ihr. Das war wirklich ein spannender Bericht, Abenteuer pur. Sehr eindurcksvolle Fotos. Schön zusehen das ihr froh und munter wieder die Heimreise antreten konntet.
    Sammelt weiterhin hilfreiche Erfahrung für Eure Abenteuer.
    LG Monika

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